Rede zu Viktor Frankls 120. Geburtstag
Erscheinungsjahr: 2025

Videobotschaft von Dr. Elisabeth Lukas
gezeigt im österreichischen Parlament
am 25. März 2025
Hohes Haus, sehr geehrte Damen und Herren,
ich bedanke mich für die ehrenvolle Einladung, in diesem illustren Rahmen ein paar Worte zu sagen. Ich freue mich sehr über dieses offizielle feierliche Gedenken an Herrn Prof. Viktor E. Frankl. Denn sehen Sie: Ich bin 1942 geboren, und in meiner Jugendzeit sangen wir bei der Bundeshymne noch: „Heimat bist du großer Söhne …“, die „großen Töchter“ unseres Landes waren vergessen. Und so erging es Herrn Prof. Frankl in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, als er in Nord- und Südamerika schon sehr berühmt war, aber in Österreich kaum Beachtung fand. Erst zu seinem 90. Geburtstag gab es hierzulande einen Bundespräsidenten, der die längst überfälligen Worte über die Lippen brachte: „Herr Professor, Österreich ist stolz auf Sie!“
Damit ist des Vergessens aber noch nicht genug. Inzwischen ist der Name Frankl auch in Österreich wohl bekannt. Doch leider meistens nur im Zusammenhang damit, dass Herr Prof. Frankl Überlebender von vier Konzentrationslagern im 2. Weltkrieg war, in denen er bis auf eine Schwester, die fliehen konnte, seine gesamte Familie verloren hat. Und dass er in seinem Bestseller-Buch mit dem Titel: „ … trotzdem Ja zum Leben sagen“ darüber berührend und erschütternd berichtet hat. Etliche Leute wissen auch, dass Herr Prof. Frankl ohne Hass und Groll, Verbitterung oder Rachegefühle aus diesem Drama hervorgegangen ist. Dass er 1945 buchstäblich seinen Häftlingskittel ausgezogen und seinen Arztkittel wieder angezogen hat und daran ging, allen Patientinnen und Patienten zu helfen, die zu ihm in die Neurologische Abteilung der Wiener Poliklinik kamen – und zwar nach besten Kräften zu helfen, ohne jemals zu fragen, welche Gesinnung und welches Parteibuch sie vor und in den Kriegsjahren gehabt haben.
Damit endet aber viel zu oft das Wissen der Allgemeinheit, und es wird vergessen, dass Herrn Prof. Frankls Verdienste weit über die Bewältigung einer persönlichen Tragödie hinaus reichen. Herr Prof. Frankl war ein brillanter Wissenschaftler. Er war der Begründer der sogenannten „dritten Schule der Psychotherapie“, wenn man die Lehre von Sigmund Freud als die „erste Wiener Schule“ und die Lehre von Alfred Adler als die „zweite Wiener Schule“ bezeichnet. Herr Prof. Frankl hat ein medizinisch-philosophisch-therapeutisches Werk voller neuer Ideen und alter Weisheiten geschaffen, das seinesgleichen sucht. Nicht umsonst ist dieses Werk mit 29 Ehrendoktoraten von Universitäten rund um den Globus honoriert worden. Das 30. Ehrendoktorat, das ihm angeboten wurde, hat er übrigens an seine geliebte Frau „Elly“ abgetreten, zum Dank für ihre aufopfernde Begleitung während seiner Lebenskarriere.
Dieses international so hoch geschätzte Franklsche Lehrgebäude trägt den Namen „Logotherapie“ – und bitte verwechseln Sie diesen Fachterminus nicht mit dem Begriff „Logopädie“. Denn Logopädie nennt man die Sprachheilkunde, wohingegen die Logotherapie von Herrn Prof. Frankl eine sinnzentrierte Psychotherapieform darstellt. Das Verwechslungspotential ist der Tatsache geschuldet, dass der altgriechische Ausdruck „logos“ sowohl mit „Wort“ als auch mit „Sinn“ übersetzt werden kann … noch etwas, das gerne vergessen wird.
Nun, die Logotherapie Frankls ist in Österreich eine staatlich anerkannte Psychotherapieform, und damit eine unter vielen. Niemand hier im Raum wird von mir erwarten, das ich die logotherapeutische Grundkonzeption in zehn Minuten erläutere. Aber zwei Aspekte aus meinem mehr als 30jährigen Erfahrungsschatz als praktizierende Psychotherapeutin möchte ich Ihnen nicht vorenthalten. In der psychotherapeutischen Ambulanz des nahe bei München gelegenen „Süddeutschen Instituts für Logotherapie, das ich bis zu meiner Pensionierung geleitet habe, wurden von mir und meinem Team an die 300 Patientinnen und Patienten pro Jahr betreut. Laut Statistik, die wir Jahr für Jahr erhoben haben, konnten wir eine Heilungsquote von 70% – 75%, in manchen Jahren bis zu 78% erzielen, was deutlich über dem üblichen Durchschnitt liegt. Denn normalerweise rechnet man mit einer ca. Zwei-Drittel-Erfolgsrate im psychotherapeutischen Bereich. Der zweite beachtliche Aspekt ist, dass logotherapeutische Behandlungen häufig schon nach kürzester Zeit effizient sind. Natürlich kann man nicht jeder oder jedem Ratsuchenden helfen, das ist klar, aber wenn, dann kann man mittels logotherapeutischer Interventionen sehr rasch helfen. Und das ist nicht nur angesichts der hohen Kosten im Gesundheitswesen, sondern auch angesichts des großen Leides, das therapiebedürftige Personen bedrückt, ein äußerst positiver Faktor.
In der Logotherapie wird eben weniger nach irgendwelchen Ursachen einer seelischen Krankwerdung gefahndet – was lange spekulative Analysen in der Vergangenheit von Patientinnen und Patienten erfordert – , als vielmehr nach den Gründen zur seelischen Gesundwerdung in der Gegenwart der Kranken gesucht. Es wird davon ausgegangen, dass jede Lebenssituation wie sie auch beschaffen sein mag, konkrete Sinnmöglichkeiten birgt, die zu ergreifen in der Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen liegt, und die im Falle ihrer Verwirklichung gute Optionen für dessen Zukunft eröffnen.
Vielleicht lässt sich hier ein Bogen zur Politik spannen, was mein hiesiges Publikum besonders interessieren mag. Denn Politik ist ja auch nichts anderes als die gemeinsame Suche nach dem Sinnvollsten, das man in verantwortlicher Position für sein Land und dessen Bewohnerinnen und Bewohner hier und jetzt entscheiden und veranlassen kann. Zumindest sollte sie dies sein. Wobei das jeweils Sinnvollste keinesfalls identisch ist mit dem, was man sich für sich selbst und seine Partei wünscht, was einem Profit und Vorteile verspricht, sondern das Beste und Bekömmlichste für alle Beteiligten bedeutet, soweit man dies nur überblicken kann. Freilich, was in schwierigen Zeite jeweils das Sinnvollste sein mag, darüber scheiden sich die Geister, aber zumindest ein Hinweis von Prof. Frankl könnte bei dieser Zielverfolgung nützlich sein. In einem seiner Fachbücher schrieb er die folgenden Sätze:
„Der politischen Stile … gibt es zwei, und der Politiker zweierlei: Für die einen heiligt der Zweck die Mittel – während die anderen sich selbst wohl bewusst sind, dass es auch Mittel gibt, die den heiligsten Zweck entweihen könnten. In Wirklichkeit ist es aber gar nicht wahr, dass der Zweck die Mittel heiligt. Es kann schon deshalb nicht wahr sein, weil einem Menschen, für den alles nur Mittel zum Zweck ist, auch der Zweck nicht heilig sein kann. Denn wem jedes Mittel recht ist, dem ist überhaupt nichts heilig.“
Wenn Sie also einen Tipp von einem der „großen Söhne Österreichs“ annehmen und beherzigen wollen, dann ist es dieser: Achten Sie auf einen fairen und würdigen Stil bei allen Ihren politischen Aktivitäten! Und Sie werden sehen, dass die viel beklagte Politikverdrossenheit insbesondere der jungen Generation alsbald verschwindet.
Ich möchte schließen mit einem persönlichen Bekenntnis von Herrn Prof. Frankl, dessen 120. Geburtstag wir heute feiern. Zur Zeit seines 83. Geburtstages, also im März 1988, 50 Jahre nach Hitlers Einmarsch, hielt Herr Prof. Frankl vor 35.000 Zuhörerinnen und Zuhörern am Wiener Rathausplatz eine bemerkenswerte Rede. Dabei fiel der Satz: „Inzwischen hat man mich 63 Mal nach Amerika geholt, aber jedes Mal bin ich wieder nach Österreich zurückgekommen. Nicht, weil mich die Österreicher so sehr geliebt hätten, sondern umgekehrt: Weil ich Österreich so geliebt habe.“
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.