Verleihung der Ehrenprofessur in Wien

Ehrungen

Verleihung der Ehrenprofessur in Wien

calendar icon 18. 05. 2014

Am 18. Mai wurde auf dem Internationalen Kongress „Die Zukunft der Logotherapie“ 2014 in Wien Frau Prof. h.c. Dr. phil Elisabeth Lukas die Ehrenprofessur der Universität Moskau verliehen.

ERÖFFNUNG:

UNIV. PROF. DR. ALEXANDER BATTHYANY
Viktor Frankl Lehrstuhl für Philosophie und Psychologie,
Fürstentum Liechtenstein,

Cognitive Science Dept.,
Universität Wien,
Gastprofessor, Dept. für Logotherapie,
Institut für Psychoanalyse, Moskau

LAUDATIO:

PROF. DR. OTMAR WIESMEYR
Vorstand, Ausbildungsinstitut
für Logotherapie und Existenzanalyse, Wels,

Lehrgangsleiter Psychotherapie –
Fachspezifikum Existenzanalyse und Logotherapie,
Donau Universität Krems,

Ethikausschuss im Psychotherapiebeirat

FAKULTÄTREDE:

DR. SVETLANA SHTUKAREVA
Lehrgangsleiterin, Dept. für Logotherapie,
Institut für Psychoanalyse, Moskau,

Vorsitzende, Russischer Berufsverband für Psychologie

BERUFUNG:

MAGNIFIZIENZ DEKAN DR. LEV I. SURAT
Rektor und Präsident des Instituts für Psychoanalyse, Moskau,

Vorsitzender des Stiftungsbeirats der Osteuropäischen Hochschulkonferenz,
Mitglied im Expertenbeirat für Bildungsfragen der Russischen Staatsduma

DANKESREDE:

PROF.H.C. DR.HABIL. ELISABETH LUKAS

FESTVORTRAG:

WALTER KOHL
Autor und Unternehmer

Bilder der Veranstaltung

Ein kleiner Ausschnitt von den Feierlichkeiten in Wien am 18. 5. 2014

Festrede von Frau E. Lukas

am 18. Mai 2014

Sehr geehrte Damen und Herren!

Nach mehr als sieben Jahrzehnten Le­bens­erfah­rung wage ich zu sagen: Das Le­ben ist voller Überraschungen. Zuge­ge­ben, nicht nur guter Überraschungen. Manchmal überrascht es uns mit unver­muteten Schicksalsschlägen und her­ben He­rausforde­rungen. Oft aber, und leider nicht immer entsprechend bemerkt, über­rascht es uns mit fas­zinierenden An­ge­boten und völlig unerwar­teten Geschen­ken.

Dass ich heute hier stehe, ist ein solches Ge­schenk. Ich habe an 53 Universitäten Gastvor­lesungen, Seminare, Workshops etc. gehalten, aber nicht an der Moskauer Uni­versität. Von mir sind Bücher in 17 Spra­chen erschienen, aber keines in Russisch. Dass also der Ruf meines be­schei­denen Wirkens auf dem Fach­gebiet der Lo­gotherapie bis nach Russland ge­drungen ist, ist wahrhaftig eine große Über­raschung des Lebens für mich.

Wenn ich zum Thema „Überraschungen des Lebens“ etwas ergänzend sagen darf: man sollte sich dafür bis ins hohe Alter em­pfangs­bereit halten. Bekanntlich ist die Furcht vor Neuem und Ungewohntem u. a. ein Kennzeichen neu­ro­tischer Existenz. Das Gewohnte, Vertraute, All­tägliche sug­geriert eine gewisse Sicherheit, die es al­lerdings im Grunde gar nicht gibt. Im Ge­wohnten, Vertrauten kennt man sich aus und meint, das Leben meistern zu kön­nen. Je mehr man sich jedoch auf diese Meisterung des Ge­wohnten verlässt, desto schockartiger werden abrupte Verände­run­gen und neu auftretenden Situationen erlebt. Wer sich hingegen offen hält für den Wandel der Zeit, der auch Loslassen und Umorientierung verlangt, der tut sich leich­ter und reagiert fle­xibler, wenn des Lebens Überraschungen ihn verblüffen.

Es ist eine der zahlreichen Hilfs­stra­te­gien der Lo­gotherapie, dass sie uns ge­ra­dezu vorbeu­gend trainiert, von Über­ra­schungen des Lebens nicht paralysiert, nicht total überwältigt zu wer­den, sondern ihnen mit einer Mindest­ge­las­sen­heit zu be­gegnen. Wie begründe ich diese mei­ne Be­haup­tung? Nun, in der Franklschen Philo­sophie ist die volle Bandbreite mensch­li­chen Da­seins so in­tensiv angedacht, dass man sich beim Vor­dringen in diese Philosophie suk­zes­sive mit al­len möglichen Überra­schungs­mo­menten des Lebens befasst und sich also in­nerlich längst auf Bahnen be­wegt, für die erst die Zukunft die Gleise und Weichen stellen wird. Studiert man zum Beispiel die Aussagen Frankls zur „tragischen Trias“ im mensch­lichen Leben, dann trifft man un­wei­gerlich und in hohem Maße auf eigenes Leid, eigene Schuld, eigenen Tod; wobei Erlittenes und Noch-zu Er­leidendes imaginativ kaum mehr wesent­lich auseinander klaffen. Oder studiert man die Franklsche Wer­tetrias, dann wiegt man sich se­lig im schöp­ferisch Geleisteten, im Glück der Liebe, im Stolz der Tapferkeit, und wiederum schrumpft der Spalt zwischen Gewesenem und Kom­men­dem. Alles ist Ernte im Blick, mag sie noch auf dem Fel­de stehen oder bereits in die ber­gende Scheune eingebracht sein, um ein berühmtes Gleichnis Frankls zu gebrau­chen. Ja, die Logo­therapie vermag uns aus­zurüsten für den konti­nuier­li­chen Ernte­vorgang, komme was wolle, aus­zu­rüsten für den richtigen Umgang mit Schmerz sowie für die uneingeschränkte Wert­schät­zung der Gnade.

So stehe ich jetzt vor Ihnen, vor den Zu­hörern, aber vor allem vor denjenigen, die mich heute zu dieser schönen Feier eingeladen haben, und versuche meine Dank­barkeit und Wert­schätzung zum Ausdruck zu brin­gen. Freilich bin ich mir in meinem Alter der Ver­gäng­lich­keit sämtlicher irdi­scher Glanzlichter sehr be­wusst, weiß, dass Be­sitz, Macht, Prestige, Ehre äußerst re­lativ sind und wie Schall und Rauch ver­ge­hen. Doch diese Feier heute ist et­was ganz Be­sonderes für mich, weil sie mit Men­schen ver­knüpft ist, die mir viel be­deuten. Ge­nau ge­nom­men verdanke ich die Ehrung erstens mei­nen Tex­ten und zweitens meinen Schülern. Oh­ne mein Schrifttum und ohne so be­gabte und treue Schüler wie Herrn Prof. Bat­thyany wäre niemand in Moskau jemals auf mich auf­merk­sam geworden. Wem aber verdanke ich mein Schrift­tum, und wem meine Schüler?

Meine literarische Tätigkeit verdanke ich Herrn Prof. Frankl, der mich im Jahr 1978 drin­gend gebeten hat, meine damaligen frühen Er­fahrungen in der praktischen An­wendung der Logotherapie in Buchform niederzulegen. Ich selbst hätte mir damals nicht zugetraut, ein Buch zu schreiben, aber er insistierte, und buch­stäblich ihm zuliebe entstand mein Erst­lings­werk. Das Eis war gebrochen … Und wie kam ich zu meinen wunderbaren Schülerinnen und Schülern? Sie verdanke ich meinem Mann, der im Jahr 1985 die Initiative ergriff und die schwierigen We­ge ebnete zur Gründung unseres süd­deut­schen Logotherapie-Instituts in Fürs­ten­feldbruck bei München. Ich selbst hätte mir da­mals nicht zugetraut, ein Wissen­schafts­insti­tut mit psy­chotherapeutischer Ambulanz zu lei­ten, aber er glaubte an mich, und so entstand in Kooperation eine Aus­bildungsstätte, die im Laufe der Jahre mehr als tausend Logo­thera­pie­experten und -expertinnen hervor­bringen sollte. Deshalb will ich meine heutige Ehrung diesen beiden Perso­nen widmen: Herrn Prof. Frankl und mei­nem Mann. Sie beide haben meine ge­samte Ent­wick­lung in ausschlaggebender Weise mit­be­stimmt. Beide waren für mich wie zwei Leucht­türme in stür­mischer See, die dafür sorg­ten, dass mein Le­bens­schiffchen nicht kenterte, nicht un­terging, sich nicht ir­gendwo in der Dun­kelheit ver­lor.

Ich bedauere sehr, dass mein Mann derzeit im Krankenhaus ist und nicht bei uns sein kann. Aber ich spüre, dass er in sei­nen Ge­danken hautnah bei mir ist, gleich­sam an mei­ner Seite steht, wie er immer ge­standen hat. Um dies nur an einer der un­zäh­ligen klei­nen Gesten zu illustrieren: Wenn ich in den USA oder in Kanada Vorlesungen ge­halten ha­be, hatte mein Mann die einmalige Gelegenheit, ein paar Rundflüge zu absolvieren. Denn er be­saß die amerikanischen Flugli­zen­zen, und das Flug­ben­zin war damals dort we­sentlich erschwinglicher als in Deutschland. Er aber, lei­denschaftlicher Pilot, blieb bei mir im Hörsaal sitzen, an meiner Seite. Was Herrn Prof. Frankl betrifft, so hat er be­rührende Ab­handlungen über das geistige „Bei-Sein“, das „Bei-den-Din­gen-unse­res-Inter­es­ses-Sein“, das „Bei-den-Menschen-unserer-Liebe-Sein“, ver­fasst, ein „Bei-Sein“, das sich zwar körperlich ausdrücken möchte, aber nicht auf Körper­lich­keit ange­wie­sen ist, weswegen ich mir gut vorstellen kann, dass auch er gerade jetzt ir­gendwie in unserer Mitte weilt.

Aus der Einsicht heraus, wie wichtig Ermu­tigungen im rechten Augen­blick sind, möchte ich nun mei­ner­seits die Ver­ant­wort­lichen der Moskau­er Universität er­mu­ti­gen, sich nicht von etwaigen Hindernissen oder psy­chologischen Gegenströmungen irritieren zu lassen und die be­gonnene Inte­gra­tion des Frankl­schen Gedan­kengutes in ihr Unter­richts­volumen fort­zu­set­zen. Es wird sich für sie und ihre Studenten­ viel­fach loh­nen.

Wahrscheinlich gehe ich nicht fehl in der An­nahme, dass sich in Russland in den letzten Jahr­zehnten eine Menge verändert hat. Die Menschen haben eine bewegte Vergangen­heit hinter sich. Auch hier in Mittel­europa gab es massive Umbrüche. Das grie­chische Wort „pan­ta rhei“ (alles fließt) be­in­haltet eine tiefe Wahr­heit. Das Frankl­wort „Jede Zeit hat ihre Neu­rose, und jede Zeit braucht ihre The­rapie“ ist ebenfalls zutiefst zutreffend. Allein während meines bisherigen Lebens habe ich die un­terschiedlichsten Stadien hierzulande beoba­ch­ten können. Vielleicht ist es erhellend, wenn ich sie kurz an­skizziere, wobei ich selbst­verständ­lich nur von meinem heimat­lichen Umfeld  berichten kann:

  • Da war zunächst die Armut der Nach­kriegs­zeit. Ich war ein Kind, und wir hatten – wie die meisten – kaum das Nötigste zum Le­ben. Keine Spielsachen, keine Heizung im Winter usw. Ich erinnere mich, dass mein Groß­vater einmal mit einem Ruck­sack auf dem Rücken quer durch ganz Wien zu den Äckern nördlich der Donau marschiert ist, weil es hieß, dort gäbe es Kartoffeln zu kaufen. Als er abends er­schöpft und mit leerem Rucksack zurück­kehrte, weil er zu­spät gekommen war, hörte ich meine Mutter weinen. Trotzdem habe ich diese Zeit in voller Geborgenheit er­lebt. Man hielt zu­sam­men, half sich gegen­seitig, und es gab noch verbindliche Werte.
  • Dann war da der aufkeimende Wohl­stand der 1950er Jahre, und mit ihm die große Freude. So viel Freude wie damals habe ich nie wieder in meinem sozialen Umkreis wahrgenommen. Ich be­such­te das Gymnasium und war glücklich. Man konnte sich ein Buch kaufen, ein neues Kleid leisten und – o Gott! – ein Fahrrad be­kom­men! Es war wie ein Rausch, und es endete wie ein Rausch.
  • Das Wirtschaftswunder der 1960er Jahre überrollte uns und zerbröselte alle tradierten Werte. Die Sexwelle schwappte über uns hin­weg, die Autoritäten wurden vom Sockel ge­stoßen, die Menschen gerieten außer Rand und Band. Jeder wollte sich plötzlich selbst ver­wirklichen, egal auf wessen Kosten. Es war die Zeit meines Stu­di­ums, und ich wurde von den Trends dieser Um­sturzperiode mit­gerissen. Wä­re ich nicht Herrn Prof. Frankl be­gegnet, ich weiß nicht, in welchem Psy­cho-Irr­garten ich mich damals verlaufen hätte.
  • Nun, der Wohlstand breitete sich aus, und die Freude erlosch. In den späten 1970er Jahren wuchs eine neue Gene­ration heran. Die „No-future-gene­ration“, wie sie sich selbst spöttisch nannte. Ihr Mar­kenzeichen war „Null­bock auf nichts“. Da ich bereits der Logo­the­rapie kundig war, erkannte ich die Symp­to­me des „exis­ten­tiellen Vakuums“, das um sich griff und die Men­schen in seinen Schlund zog. Es gab Autos und Wohnungen für jeder­mann, es gab ge­nügend Jobs, es gab alle Frei­heiten, die sich die Bürger nur wünschen konn­ten, es gab die Chance zu abenteuerlichen Urlaubs­rei­sen … und es gab zunehmend mehr De­pressionen, Suizide, ausgeflippte Jugend­liche, Drogenab­hängige und sinnlose Ge­walt- und Zerstörungs­delikte. Ich arbeitete schon als Psy­chologin und lernte das unnö­tige, das selbst fabrizierte Leid bei meinen Klienten kennen, den Kummer, den sie sich und anderen zufügten aus purem Mißmut, Verdruß, aus Langeweile, Gleich­gül­tigkeit, Egoismus. Eingedenk des ge­flü­gel­ten Wortes: „primum vivere, dein­de philo­so­pha­ri“, zu gut deutsch „Erst kommt das Fres­sen und dann die Moral“ lernte ich: Bei zuviel „Fressen“ kommt kei­ne Moral mehr. Mit gera­dezu prophetischen Fä­higkeiten hat Frankl schon vor dem 2. Welt­krieg, als von Luxus und exzessiven Lebens­ge­nüssen nicht ein­mal geträumt werden konn­te, vor­aus­gesagt, dass es dem Men­schen see­lisch nicht bekommt, wenn es ihm rein äu­ßerlich und ma­teriell allzu gut geht.
  • Die Entwicklung raste weiter, und zwar welt­umspannend. Mit der elektronischen Daten­verarbeitung und der Globalisierung dämmerte ein neues Zeitalter herauf. Plötz­lich war alles vernetzt, und die Prob­leme der Welt rüttelten am Wohl­stand der ver­wöhnten Völker. Gegen Ausklang des vorigen Jahrhunderts bil­dete sich ein Be­wusstsein, dass die Ressoucen knapper zu werden be­ginnen. Jobs und Geld verdünnten sich. Aber so wenig viele Menschen hierzu­lande den Wohl­stand wertgeschätzt hat­ten, so wenig waren und sind sie bereit, auf ihn zu ver­zichten. Ihre Men­talität begann sich in Rich­tung unserer gegenwärtigen Gesellschaft zu formen. Man arbeitet fleißig, um sich einen hohen Le­bens­standard zu bewahren, aber der Stress hat seinen Preis. Mobbing, Neid, Kon­kur­renz­geran­gel, Panikattacken, Burnout- und Überlas­tungs­symptome sind die aktuellen Psycho­the­men. Dazu die Sucht nach dem Wegdriften vor dem Bild­schirm, der mehr und mehr die Seelen der Zuschauer lenken und ver­ein­nahmen darf. Wirt­schafts­krise, Energie­krise, Fami­lien­krise sind die Standorte von heu­te. Da­zwischen sprießt eine unendliche Sehn­sucht nach Ruhe, Stille, Frieden, Wellness, nach einem einfachen Leben statt dem permanenten Daseinskampf so­wohl am Ar­beits­platz als auch in den ver­wickelten zwischen­menschlichen Be­ziehungen, wie sie ringsum üblich sind. Ich selbst bin aus dem Stress heraus, bin nicht mehr be­rufstätig, lebe seit 44 Jahren in einer glück­lichen Ehe und habe ein gutes Verhältnis zu unseren Kindern, aber ich fühle ein großes Mit­leid mit meinen jüngeren Zeit­genossen.

In all diesen Phasen, die ich aufgezählt habe, war die Sinnfrage präsent. Sie flackert auf in der Armut und im Reichtum, in der Not und im Überfluss. Bei sorgfältiger Be­trach­tung der ge­nannten Verläufe zeichnet sich je­doch­ eine Tendenz ab, die Frankl schon lange geahnt und mit dem wachsenden Tradi­tions- und In­stinktverlust des Menschen erklärt hat, nämlich dass wir in unserem digitalen Zeitalter bei der Beantwortung der Sinn­fra­ge immer mehr allein gelassen sind. Es ist mittlerweile beängstigend schwer ge­wor­den, sich auch nur eine Mei­nung zu bilden, die irgendwie sinn­unter­mauert ist. Ist es sinnvoll, gentechnisch gezüchtetes Ge­trei­de anzubauen? Ist es sinn­voll, gleich­ge­schlecht­lichen Partnern Kinder an­zuver­trauen? Ist es sinnvoll, Kre­dite an aus­län­dische Firmen zu ver­ge­ben? Ist es sinn­voll, per­sönliche Infor­ma­tionen ins Internet zu stel­len? Täglich rollt ein end­loser Fra­genkatalog an uns vorüber mit Fragen, die der Einzelne über­haupt nicht sach­lich und vernünftig beant­worten kann, weil sich Für- und Gegenar­gumente schier die Waa­ge halten. Und weil die Me­dien die domi­nierenden Meinungs­macher sind, die, je nach wirt­schaft­lichem, politi­schem oder re­ligiösem Couleur den Einzelnen mit aus­ge­wähl­ten Pseudo-Argu­men­ten überhäufen, deren er sich kaum erweh­ren kann. Jeder Fernsehspot erzählt ver­steckt von ir­gend­einem „Sinn“ der Aktionen seiner Ak­teure, und es bedarf einer starken Cha­rak­terfestigkeit – besser noch: Enthalt­sam­keit -, um sich den subtilen Manipulationen zu entziehen. In Russland oder in anderen Erd­teilen mag die Situa­tion vari­ie­ren, dennoch wird es gewiss auch dort zu­neh­mend zum span­nen­den Un­ternehmen jeder ein­zelnen Per­son, ange­sichts der viel­fältigen Ge­gensätze und Ein­flüsse im indivi­du­el­len Le­ben Sinn zu finden und die eigenen Handlungen dem Sinn gemäß zu ge­stalten. Wir erleben, psychologischen Stu­dien zufolge der­zeit eine „Renaissance der Sinnfra­ge“, was mich nicht wundert, weil der Sinn eben so frag­lich, geradezu fragil gewor­den ist.

Was hat also die Franklsche Lehre, die schon vor fast hundert Jahren dem Sinn­phä­nomen auf der Spur ge­wesen ist, ange­sichts der ex­tre­men Umwäl­zungen der Post­mo­derne anzu­bie­ten? Sie sehen, ich reversiere das Kon­gress­thema ein bisschen. Um die „Zu­kunft der Logo­the­rapie“ mache ich mir keine Sorgen, die Logotherapie wird stetig an Be­deu­tung ge­winnen; aber um die „Zu­kunft selbst“ kann man sich schon einige Sorgen machen, wes­halb ich der Frage nach­gehen möchte, wel­che Perspektiven denn die Logotherapie für die Zukunft bereit hält? Nun, ich sa­ge Ihnen: es gibt im Franklschen Lehr­ge­bäude profunde Hoff­nungsaspekte, die brand­aktuell sind. Vier da­von möchte ich er­wäh­nen, weil sie mir be­son­ders wichtig er­scheinen.

Da ist erstens der Aspekt, dass sich das Ge­wissen – das „Sinn-Organ“ des Men­schen – zwar schrecklich langsam, aber dennoch mit fort­schreitender Kultur ver­feinert. Wir sind so kurz­lebige Wesen, dass wir diesen Eindruck nicht haben. Aber Frankl mit seinem Weitblick be­obachtete, dass es über die Pathologien des je­wei­ligen Zeitgeistes hinaus sozusagen Gesin­nungs­mu­ta­tionen im großen Stil gibt und in der Ge­schichte wiederholt gab, die in positive Rich­tung anschieben. Er zeigte es am Beispiel der Sklaverei auf, die einst für legal be­funden wur­de, aber mitt­ler­weile weltweit geächtet ist. Ähn­lich brodelt es ge­genwärtig in den Gesinnungen und Ein­stel­lungen spe­ziell jüngerer Men­schen quer über den Erdball. Mit ange­stoßen durch die moder­nen Kommuni­ka­tionsmittel, die alles un­ver­gleich­lich trans­pa­renter machen als frü­her, ste­hen mehr und mehr Völker auf ge­gen Dik­ta­turen, Korruption, Terror und Thyran­nei. Leider ge­hen sol­che Mas­sen­proteste in den seltesten Fällen ohne den Einsatz von Waf­fen ab, was keines­falls zu einer kol­lek­tiven Ge­wis­sensre­volte passt. Trotz­dem ist es ein Hoffnungs­schimmer am Hori­zont, dass es bru­tale Macht­haber allmählich schwe­rer haben, ihre Unter­tanen zu knebeln und aus­zubeuten, weil der Wider­stand und das Selbstbewusstsein der Völ­ker wächst und sie um Freiheit, Selbstbe­stimmung und die Wahrung ihrer Men­schen­rechte ringen.

Joseph Fabry, ein langjähriger Freund von Prof. Frankl, erzählte einst von einer Dis­kus­sion, bei der Frankl das Gewissen nicht nur als den intimsten Weg­wei­ser der Einzelperson, sondern auch als ein Werkzeug des mensch­lichen Fort­schritts be­zeichnet hat. Frankl meinte  – ich zitiere: „In einer Gesell­schaft, die den Kannibalismus tole­rierte oder gar pos­tu­lierte, konn­te nur ein Mensch mit einem hoch­ent­wickelten Ge­wissen die Kraft aufbringen, den allgemein anerkannten Normen, die auch ihm ein­ge­trichtert worden waren, zu wider­spre­chen. In­dem er aber solcherart seinem Ge­wissen ge­horchte – einem Gewissen, das den Kan­ni­ba­lismus eben abzulehnen wagte -, wurde er zum Revolutionär. Vielleicht verlor er sein Le­ben; aber er hatte das Ge­wissen anderer Men­schen wachge­rüt­telt! Und ich denke, das ist die Art und Weise, in der menschlicher Fortschritt vor sich geht …“, so Frankl im Gespräch mit Fabry.
Nun, das Beispiel ist exzellent ge­wählt, denn es impliziert nicht, dass der Anti­kan­nibale seine Mitbrüder und Mit­schwestern, die noch Kanni­balen waren, attackierte oder gar ausrottete. Der „Revo­lutionär“ in Frankls Bild ist friedlich, er verweigert bloß, selber die menschliche Würde zu beschädigen, und nimmt notfalls die Konse­quenzen in Kauf. Wenn sich demnach der heute anschwellende Protest der Völker ge­gen herr­schende Ungerech­tigkeiten, ge­gen die Verelen­dung vieler bei maßloser Be­reicherung weniger u. ä. paaren würde mit der grandiosen Er­run­genschaft des ge­waltlosen Wider­stan­des, mit einem freiwilligem Gewaltver­zicht aus Über­zeugung, dann wä­re tatsä­chlich ein Fortschritt der Mensch­heit in Reichweite.

Der zweite Aspekt der Hoffnung, den ich zu entdecken vermeine, ist die grassierende Sehn­sucht nach dem Inne­hal­ten mitten in der täg­lichen Hektik. Schon vor 20 Jahren hat der Slo­gan, man sei „reif für die Insel“, für Schmun­zeln, aber auch für ein beacht­liches Echo ge­sorgt. Seither geistert der Traum von einer „Auszeit“, die man sich, wenn nur irgendwie finanzierbar, gönnen möch­te, durch die Köpfe zahlreicher Men­schen. Nicht immer sind Fluchttendenzen seine Basis. Es ist ein Sensus dafür ent­standen, dass man aus dem be­rüchtigten Hamsterrad aussteigen will, dass es eine Chance geben müsste, der ständigen Reiz­überflutung zu entrinnen und schlich­ter, aber dafür bewusster und authen­tischer zu le­ben. Wenn dies auch meistens nicht ge­lingt, so ver­dichtet sich doch eine diesbezüg­liche Vision in den Herzen vieler Men­schen, eine Vision, die in ihrer Intensität mehr und mehr frucht­bar werden könnte.

Herr Prof. Frankl hat in einem Rund­funk­vortrag  dafür plädiert, dass – ich zi­tiere: „… der Mensch es wieder lernt, für einige Zeit, etwa für ein Weekend, in die Wüste zu gehen – und Wüsten gibt es nahe von uns, gibt es überall. Sei es ein Hüt­tenbummel in den Bergen, sei es eine ein­same Bucht an einem Ufer. Dort kann man seine Gedanken wenigstens zu Ende den­ken …“, so Frankl, der schon in seiner Jugend selbst als ein „Zu-Ende-Denker“ bezeichnet worden ist.

Ja, das Denken – sehen Sie, es gibt nicht nur der Gefühle zweierlei: die rein psy­chisch-ani­malischen Gefühle wie Hunger, Angst, Wut, Begierde usw. und die im spezifisch Humanen gründenden Gefühle der Werteempfindung, der Freundschaft, der Begeis­te­rung, der künstle­ri­schen oder wissenschaftlichen Faszination usw., wie im Buch „Der un­bewusste Gott“ von Frankl be­schrieben. Nein, es gibt auch der Ge­danken zweierlei: die cor­tikale Verstan­desleistung in Kombination von Intelli­genz, Ge­dächtnis, lo­gi­schem Den­ken etc., und die wiederum spezi­fisch humane Ebene von Er­kenntnis, Ein­sicht und Weis­heit, in der auch so etwas die reine Phy­siologie Über­schrei­tendes wie Sinnerfas­sung ihren Platz findet.

Frankl hatte völlig recht: Nur in der Stil­le, in der Reizabschottung, sozusagen in der persön­lichen „Wüste“, kann man in Ruhe nach­den­ken, etwas zu Ende denken, kann man spüren, was man wirklich will und soll, kann man jenes „gerade jetzt Sinnvolle“ in Klar­heit erschauen, dem man sein volles Ja zu schenken ver­mag. Diese Art von Den­ken ist jedoch für einen Großteil der Men­schen inzwischen ungewohnt gewor­den.

Ich möchte Ihnen dazu ein simples Beispiel er­zählen. Ich habe meine ersten zehn Bücher noch auf der Schreib­maschine getippt. Das war müh­sam, denn jede Seite musste mehrmals ge­schrieben werden, vom Rohentwurf bis zur schlussendlichen Text­ausfeilung. Da man auf der Schreibma­schine Fehler schlecht ausbessern konnte, entwickelte man damals die Fähigkeit, in­nerlich ganze Ab­sätze druckfertig vor­zufor­mulie­ren und gleich­sam in einem Guss nieder­zu­schreiben. Es herrschte das Prinzip: „Erst denken – dann han­deln“, das heißt, sich erst ei­nen Satz aus­zudenken, und ihn dann nie­der­zulegen. Als die Computer aufkamen, wurde es unvergleichlich bequemer, und niemand möchte die elek­tronische Textverarbeitung mehr mis­sen. Aber das Prinzip drehte sich um. Da man am PC alles problemlos korrigieren, ver­schie­ben, löschen und neu konzipieren kann, herrscht heute eher das Prinzip: „Erst han­deln – dann denken“, das heißt, erst ir­gend­einen un­ausge­gorenen Satz einzutippen, und dann das Ge­tippte auszu­bes­sern oder zu verwerfen. Beim Buch­schrei­ben ist das vielleicht nicht tra­gisch, aber im Leben ist „Erst han­deln – dann den­ken“ absolut kein em­pfehlenswer­tes Prinzip, denn so manche unbe­dachte Handlung, die eben nicht mehr korri­gier­bar ist, gerät zum Bumerang.

Im Leben muss auch die heutige Gene­ration beim bewährten „Erst denken – dann handeln“ bleiben bzw. dorthin zu­rück­kehren, und das kann sie umso leich­ter, als sie an regelmäßige Ausflüge in die private Wüste gewöhnt ist, dort­hin, wo man in Ruhe nachdenken und „zu Ende denken“ kann. Wo man innerlich zu sich kom­men kann. Wo man den Sinnanruf der Stunde vernehmen kann. Allerdings fordert die­ser rege­ne­rie­rende Gang in die Wüste ein Op­fer, näm­lich: Selbstbeschränkung, Bescheiden­heit. Wer seine Freizeit vollstopft mit Evants und Vergnü­gungen, mit Shopping, Surfen, Telefonieren und sonstigen Zerstreuungen, dem ergeht es genau wie dem­jeni­gen, der seine Wohnung vollstopft mit lauter Zeug, das er gar nicht braucht: er versinkt im Zuviel. Entrümpelung, Ent­schleunigung und eine neue Genügsamkeit hingegen wären die befreienden Elemente, die die innersten Sehnsüchte der Menschen zu­mindest in un­serer westlichen Ge­sellschaft in hohem Maße er­füllbar ma­chen würden – und zwar Sehn­süch­te ganz anderer Art, als zu er­füllen die pausen­lose Werbetrom­mel verspricht. Hoffen wir deshalb auf eine neue Kultur der Nach­denklichkeit – sie könnte das Antlitz der Erde im Guten ver­ändern hel­fen.

Die Erwähnung des PCs leitet über zu einem weiteren Hoffnungsaspekt, der sich entge­gen allen Unkenrufen in den Wirr­nissen unserer Zeit herauskristallisiert. Der Mensch hat sich ein drittes Gehirn ge­schaffen. Zusätzlich zu sei­nem archai­schen Hirnstamm mit den auto­ma­tischen und homöostatischen Funk­tions­regu­la­tionen und zu­sätz­lich zu seiner enorm inte­gra­tiven Asso­zia­tions­rinde, dem Neocortex, hat der ho­mo sa­piens nunmehr den Hoch­leis­tungs­com­puter zur Hand, der mit seiner ungeheuren Da­tenspei­cherung und seinen blitzschnellen Such­pro­grammen In­formationen lie­fern kann, zu de­nen das mensch­liche Analysieren und Forschen al­lein niemals ge­langen könnte. Noch dazu han­delt es sich bei den von Computern er­hobenen Informa­tionen um solche, die nicht von Emo­tio­nen und Vor­urteilen eingetrübt sind, wie es bei den Denk­vor­gängen des menschlichen Ge­hirns der Fall ist.

Freilich kann alles missbraucht werden, wie manche schlimmen Erfahrungen mit dem In­ternet zeigen. Wie klug äußerte sich Frankl in seinem Wort, dass es nie und nimmer auf eine Technik ankomme, son­dern stets auf den Geist, in dem sie ge­handhabt werde. Doch von jeg­lichem Mißbrauch abgesehen, eröffnet dieses „dritte Gehirn“ dem Menschen nie geahnte Möglich­keiten, in die Geheimnisse der Seins­realität, die uns umgibt und inkludiert, vor­zudringen, kurz, die Realität besser kennen zu lernen, sie besser zu verstehen.

Jeder, der je mit Ratsuchenden thera­peutisch gearbeitet hat, weiß, wie viel von einer an­ge­messenen Rea­litätseinschätzung abhängt. Nicht nur, dass Rea­litätsverkennungen das Le­ben psy­chotisch kran­ker Patienten dramatisch über­schatten. Auch neurotisch kranke Patienten lei­den unter rea­litätsinadäquaten Angstvorstellun­gen und scheinbar dräuenden Ich-Unter­gängen. Ja, selbst Men­schen, die man als seelisch ge­sund einstufen würde, agieren mitunter wi­der ihre rea­listische Situation, indem sie etwa Schulden machen, die sie nicht zu­rückzahlen können, Nahrungsmittel konsu­mie­ren, die ihnen scha­den, oder vorschnelle Zusagen geben, de­nen sie nicht ge­wachsen sind. Rea­li­täts­ver­ken­nungen sind selbststrafende Prozesse mit ge­nerell schlech­tem Ausgang, im Kleinen wie im Großen. Histo­riker haben zum Beispiel nachge­wiesen, dass beide entsetzlichen Welt­kriege des vorigen Jahrhunderts mit puren Fehl­ein­schät­zungen der Realität begonnen ha­ben, und dies nicht nur in den Füh­rungsetagen der poli­tischen Spitzengre­mien, son­dern durchaus auch in brei­ten Bevöl­ke­rungsschich­ten. Je mehr sich Ideo­logien ver­festigen, desto mehr entgleiten sie der Rea­lität.

Das „dritte Gehirn“ der Menschheit kann, richtig ge­braucht, mithelfen, die Rea­lität kor­rekter einzuschätzen. Mit seiner Hilfe ist es ge­lungen, ein Fahrzeug auf dem Mars zu landen – um nur ein Detail unter Millionen heraus­zu­greifen. Um einen solchen Erfolg zu ver­buchen, be­durfte es einer immensen Prä­zision und Auf­schließung physikalischer Zu­sam­menhänge. Der ge­ringste Fehler, etwa bei der Flug­bahn­berechnung, hätte das ge­samte Projekt ge­kippt. Natürlich können die Computer nicht de­fi­nieren, ob es überhaupt sinnvoll ist, auf dem Mars zu landen. Aber wenn uns Men­schen et­was als sinnvoll dünkt, dann kön­nen sie uns unter Umständen ver­raten, ob und wie es zu rea­lisieren wäre.

Wir sind von dem Problem ausgegangen, dass es in der Komplexität unserer Epoche schwie­riger geworden ist, das Sinnvolle vom Sinn­wid­rigen zu unterscheiden. Niemand und nichts kann uns diese Aufgabe abnehmen, sie bleibt die Verantwortlichkeit des menschlichen We­sens schlechthin. Doch angesichts dieser Schwierigkeit können die immer tüchtiger wer­denden Maschinen minuziöse Infor­ma­tionen liefern zur Umsetzbarkeit von Plä­nen, zur Vor­her­sag­barkeit der Folgen un­seres Handelns, zu den realistisch erwartbaren Auswirkungen gra­vie­render Eingriffe in die Natur usw. Sie kön­nen in den Dienst der Sinnsuche und Sinn­findung ge­stellt werden, indem sie Illu­sionen ausfiltern und Ideale mit Machbarkeit ver­knüpfen. Vor­aus­setzung dafür allerdings ist, dass sie eben „in den Dienst gestellt“, das heißt, Die­ner sind, dass der Mensch sie beherrscht, und nicht sie den Men­schen be­herrschen. Daran ist zu arbeiten, und ich glaube, das ist die größte Arbeit, die heute von der Jugend zu voll­brin­gen ist: die Computer ein- und auszu­schal­ten; sie zu sinnorientierten Zwecken zu be­nützen ohne sich ihnen und ihren Ver­lockungen zu unterwerfen. Wenn sie das schafft, kann sie sich unter Ein­satz ihres „dritten Gehirns“ sa­genhaft viel­ver­sprechende Optionen für die Zu­kunft er­obern.

Einen vierten Aspekt der Hoffnung möchte ich noch streifen. Die umstrittene Globa­li­sie­rung, die die Gemüter in Aufruhr ver­setzt, ist si­cherlich nicht zurückzudrehen. Im Gegenteil, alles auf dieser Erde vermischt sich, und je­des Geschehnis greift in andere Geschehnisse mit ein. Die einzelnen Nationen können nicht mehr „ihr je eigenes Süppchen kochen“; andere Na­tionen wer­fen ihnen fremde Zutaten in den Topf, ob es ih­nen schmeckt oder nicht. Man kann sich darüber beklagen, dagegen wettern, nur wissen wir aus der Psychotherapie, dass Kontraposi­tionen an und für sich nicht kon­struktiv sind. Konstruktivität liegt stets in einem kreativen Dafür-Sein, in diesem Fall: für einen Globus sein, der es wert ist, bewohnt zu wer­den. Der Frankl­ausspruch „Die Welt ist nicht heil, aber heilbar“ gilt auch und ganz besonders in un­seren Tagen. Was könnte also zur Heilung bei­tragen im Zeitalter des unaufhaltsamen und ständig en­ge­ren Zusam­menrücken-Müssens der Völker?

Überlegen wir: Wa­rum reibt es sich so stark zwischen nahen und fernen Nach­barn? Die Ant­wort lautet: Weil sie so ver­schieden sind. Ver­schiedene Rassen, verschiedene Weltan­schau­ungen, verschiedene Parteien, verschiedene Wünsche und Sorgen, verschie­dene Kapa­zi­tä­ten, ver­schiedene uralte Anpas­sungen an ver­schiedene Lebensräume … eine endlose Ver­schiedenheit – wie sollen sie sich da verstehen? Dennoch gibt es eine große, eine großartige Ge­meinsamkeit unter ihnen, und es ist in der Tat Herrn Prof. Frankl zu ver­danken, dass wir nicht nur ein vages Gefühl dafür ha­ben, sondern ein ge­wichtiges Wort dafür be­sitzen: jeder Mensch eines jeden Vol­kes ist eine geistige Person. Das ist das einzig grundlegend Ge­meinsame von uns allen. Das ist es, was uns verbindet: Geistigkeit und in einem damit Frei­heit, Ver­antwortung, Schöp­fungs­potential und die unein­geschränkte, unantastbare Personen­würde.

Obwohl es erstaunlich klingt, könnte just das Phänomen der Globalisierung mithelfen, dieses Gemein­same in den Blick­punkt zu he­ben. Über das Begreifen, dass unser Wohl und Wehe zu­sam­menhängt, dass keiner mehr aus­scheren kann, etwa aus sich an­bah­nenden Kata­stro­phen wie Klima­ge­fah­ren u. ä., und dass es uns lang­fristig nur noch ge­meinsam gut oder schlecht gehen wird, könnte sich unisono ein Credo ent­wickeln, das ungefähr dem ent­spricht, was Frankl bereits vor Jahr­zehnten einge­fordert hat: ein Monanthropismus. Der Glau­be an die eine Menschheit, der wir alle an­ge­hören. Ein Glau­be, der sämtliche Verschie­den­heiten zu über­brücken vermöchte, die uns heute so ver­zweifelt um­trei­ben.

So erlauben Sie mir, als einer der äl­testen Schülerinnen Frankls, zusammenfassend dem Aus­druck zu verleihen, was Frankl vermutlich den sinnsuchenden Menschen des angebro­che­nen 21. Jahrhunderts mit auf den Weg geben würde. Vermutlich würde er sagen: „Steht auf! Steht auf gegen die permanente Leidverur­sa­chung ringsum, ent­faltet euer Feingespür für die wah­ren Werte und setzt euch ein für To­leranz und gegenseitige Achtung – aber ver­zichtet da­bei auf Gegenaggressionen und auf jegliches kämpferisches Wüten.“ Hat uns doch Frankl gelehrt, dass die schlechten Mittel den besten Zweck entweihen. Hat er uns doch in seinem erschütternden Theaterstück mit seinem Ap­pell: „Wir wollen nicht wieder und immer wie­der Unrecht mit Unrecht ver­gelten, Hass mit Hass erwidern und Gewalt mit Gewalt! Die Kette .. die Kette … die muss endlich gesprengt wer­den!“ ein Vermächtnis hinterlassen, wie es eindringlicher nicht sein könnte.

Vermutlich würde er des weiteren sagen: „Be­scheidet euch, lasst euch nicht blenden von den Sirenenrufen des Massenkonsums und zieht euch öfters zwischendurch zu erholsamen Mini­pausen in eure persön­liche Wüste zurück. Lauscht dort der Stimme der Trans­zendenz!“ Hat uns Frankl doch geraten, in einer Zeit, in der die 10 Gebote an Geltung zu verlieren scheinen, die 10.000 Ge­bote zu be­achten, die in den 10.000 Situa­tionen unseres komplizierten Lebens ver­schlüsselt sind. Wie aber soll je­mand 10.000 Gebote ver­nehmen? Ganz einfach, in der Stille werden sie ihm Stück für Stück offenbar, und zwar nicht als strenge Befehle von „oben“, son­dern als zärtliche Zuflüs­te­run­gen des treu­esten Freun­des, den wir haben, unseres Ge­wissens.

Vermutlich würde Frankl fortfahren, indem er sagt: „Ihr habt euch inzwischen ein fantas­ti­sches techni­sches Repertoire angeeignet, das euch gigan­tische Möglichkeiten zuspielt, aber geht sorg­fältig damit um! Alle Technik bedarf einer Kontrolle durch etwas Metatechnisches, um sich nicht gegen seine ei­genen Erfinder zu wen­den!“ Erläuterte Frankl doch an Hand der psychotherapeutischen Tech­niken, dass sie sich verbinden müssen mit der Kunst und Weisheit des Therapeuten, und dass selbst Kunst und Weisheit noch nicht genug sind, wenn da nicht die Menschlichkeit dazu­kommt; die Mensch­lichkeit, die der Technik erst den ihr gebüh­ren­den Platz einräumt und einbegrenzt.

Eine letzte Vermutung: Frankl würde sagen: „Vergesst nie, ihr seid die Wesen, die immer entscheiden. Entscheiden, was sie im nächsten Au­genblick sein werden. Ihr seid kraft eures geis­tigen Potentials aktive Mitge­stalter eures Schicksals. Ver­eint in einer Menschheit seid ihr aktive Mit­gestalter der Mensch­heits­ge­schichte. Ihr schreibt mit euren Taten in ein Ge­schichts­buch, in dem nichts mehr aus­radiert werden kann, weder Glorreiches noch Grauen­volles, in dem aber noch blanke, leere Seiten unbe­kannter An­zahl vor euch liegen, die am Ende von euch zeugen werden. Macht ein Ge­mein­schaftsepos da­raus, das eurer würdig ist!“ Ich erinnere mich an eine Anekdote Frankls, wonach Schulkinder to­tal zerstritten waren bis zu dem Tag, an dem ihr Ferienbus im Morast stecken blieb. Plötz­lich mühten sie sich Schulter an Schulter ab, um den Bus wieder flott zu be­kom­men, und alle Un­stimmigkeiten waren wie weggeblasen. Frankl be­tonte, dass nichts so friedenstiftend sei wie die Hin­gabe an eine gemeinsame sinnvolle Auf­gabe. Weshalb er vielleicht schließen würde mit den Worten: „Nehmt euch diese Schulkin­der zum Vorbild! Es gibt genug Kostbares auf der Welt, das ihr mit vereinten Kräften aus dem Morast zie­hen könnt. Geht getrost ans Werk, Schulter an Schulter, je­der von euch mit seinen Talenten, auf dass sich der ‚tra­gi­sche Op­timis­mus‘, den ich in mei­ner Le­bens­spanne ge­hegt habe, in eu­rer Le­bens­spanne allmählich wan­deln möge zu einem – be­rech­tig­tem Opti­mis­mus!“

Ja, schöner als Herr Prof. Frankl kann man es nicht ausdrücken, und so danken wir ihm für seine inspirierenden Thesen; und ich danke Ih­nen fürs Zuhören.

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