Ehrungen
Verleihung der Ehrenprofessur in Wien
Am 18. Mai wurde auf dem Internationalen Kongress „Die Zukunft der Logotherapie“ 2014 in Wien Frau Prof. h.c. Dr. phil Elisabeth Lukas die Ehrenprofessur der Universität Moskau verliehen.
ERÖFFNUNG:
UNIV. PROF. DR. ALEXANDER BATTHYANY
Viktor Frankl Lehrstuhl für Philosophie und Psychologie,
Fürstentum Liechtenstein,
Cognitive Science Dept.,
Universität Wien,
Gastprofessor, Dept. für Logotherapie,
Institut für Psychoanalyse, Moskau
LAUDATIO:
PROF. DR. OTMAR WIESMEYR
Vorstand, Ausbildungsinstitut
für Logotherapie und Existenzanalyse, Wels,
Lehrgangsleiter Psychotherapie –
Fachspezifikum Existenzanalyse und Logotherapie,
Donau Universität Krems,
Ethikausschuss im Psychotherapiebeirat
FAKULTÄTREDE:
DR. SVETLANA SHTUKAREVA
Lehrgangsleiterin, Dept. für Logotherapie,
Institut für Psychoanalyse, Moskau,
Vorsitzende, Russischer Berufsverband für Psychologie
BERUFUNG:
MAGNIFIZIENZ DEKAN DR. LEV I. SURAT
Rektor und Präsident des Instituts für Psychoanalyse, Moskau,
Vorsitzender des Stiftungsbeirats der Osteuropäischen Hochschulkonferenz,
Mitglied im Expertenbeirat für Bildungsfragen der Russischen Staatsduma
DANKESREDE:
PROF.H.C. DR.HABIL. ELISABETH LUKAS
FESTVORTRAG:
WALTER KOHL
Autor und Unternehmer
Bilder der Veranstaltung
Ein kleiner Ausschnitt von den Feierlichkeiten in Wien am 18. 5. 2014
Festrede von Frau E. Lukas
am 18. Mai 2014
Sehr geehrte Damen und Herren!
Nach mehr als sieben Jahrzehnten Lebenserfahrung wage ich zu sagen: Das Leben ist voller Überraschungen. Zugegeben, nicht nur guter Überraschungen. Manchmal überrascht es uns mit unvermuteten Schicksalsschlägen und herben Herausforderungen. Oft aber, und leider nicht immer entsprechend bemerkt, überrascht es uns mit faszinierenden Angeboten und völlig unerwarteten Geschenken.
Dass ich heute hier stehe, ist ein solches Geschenk. Ich habe an 53 Universitäten Gastvorlesungen, Seminare, Workshops etc. gehalten, aber nicht an der Moskauer Universität. Von mir sind Bücher in 17 Sprachen erschienen, aber keines in Russisch. Dass also der Ruf meines bescheidenen Wirkens auf dem Fachgebiet der Logotherapie bis nach Russland gedrungen ist, ist wahrhaftig eine große Überraschung des Lebens für mich.
Wenn ich zum Thema „Überraschungen des Lebens“ etwas ergänzend sagen darf: man sollte sich dafür bis ins hohe Alter empfangsbereit halten. Bekanntlich ist die Furcht vor Neuem und Ungewohntem u. a. ein Kennzeichen neurotischer Existenz. Das Gewohnte, Vertraute, Alltägliche suggeriert eine gewisse Sicherheit, die es allerdings im Grunde gar nicht gibt. Im Gewohnten, Vertrauten kennt man sich aus und meint, das Leben meistern zu können. Je mehr man sich jedoch auf diese Meisterung des Gewohnten verlässt, desto schockartiger werden abrupte Veränderungen und neu auftretenden Situationen erlebt. Wer sich hingegen offen hält für den Wandel der Zeit, der auch Loslassen und Umorientierung verlangt, der tut sich leichter und reagiert flexibler, wenn des Lebens Überraschungen ihn verblüffen.
Es ist eine der zahlreichen Hilfsstrategien der Logotherapie, dass sie uns geradezu vorbeugend trainiert, von Überraschungen des Lebens nicht paralysiert, nicht total überwältigt zu werden, sondern ihnen mit einer Mindestgelassenheit zu begegnen. Wie begründe ich diese meine Behauptung? Nun, in der Franklschen Philosophie ist die volle Bandbreite menschlichen Daseins so intensiv angedacht, dass man sich beim Vordringen in diese Philosophie sukzessive mit allen möglichen Überraschungsmomenten des Lebens befasst und sich also innerlich längst auf Bahnen bewegt, für die erst die Zukunft die Gleise und Weichen stellen wird. Studiert man zum Beispiel die Aussagen Frankls zur „tragischen Trias“ im menschlichen Leben, dann trifft man unweigerlich und in hohem Maße auf eigenes Leid, eigene Schuld, eigenen Tod; wobei Erlittenes und Noch-zu Erleidendes imaginativ kaum mehr wesentlich auseinander klaffen. Oder studiert man die Franklsche Wertetrias, dann wiegt man sich selig im schöpferisch Geleisteten, im Glück der Liebe, im Stolz der Tapferkeit, und wiederum schrumpft der Spalt zwischen Gewesenem und Kommendem. Alles ist Ernte im Blick, mag sie noch auf dem Felde stehen oder bereits in die bergende Scheune eingebracht sein, um ein berühmtes Gleichnis Frankls zu gebrauchen. Ja, die Logotherapie vermag uns auszurüsten für den kontinuierlichen Erntevorgang, komme was wolle, auszurüsten für den richtigen Umgang mit Schmerz sowie für die uneingeschränkte Wertschätzung der Gnade.
So stehe ich jetzt vor Ihnen, vor den Zuhörern, aber vor allem vor denjenigen, die mich heute zu dieser schönen Feier eingeladen haben, und versuche meine Dankbarkeit und Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen. Freilich bin ich mir in meinem Alter der Vergänglichkeit sämtlicher irdischer Glanzlichter sehr bewusst, weiß, dass Besitz, Macht, Prestige, Ehre äußerst relativ sind und wie Schall und Rauch vergehen. Doch diese Feier heute ist etwas ganz Besonderes für mich, weil sie mit Menschen verknüpft ist, die mir viel bedeuten. Genau genommen verdanke ich die Ehrung erstens meinen Texten und zweitens meinen Schülern. Ohne mein Schrifttum und ohne so begabte und treue Schüler wie Herrn Prof. Batthyany wäre niemand in Moskau jemals auf mich aufmerksam geworden. Wem aber verdanke ich mein Schrifttum, und wem meine Schüler?
Meine literarische Tätigkeit verdanke ich Herrn Prof. Frankl, der mich im Jahr 1978 dringend gebeten hat, meine damaligen frühen Erfahrungen in der praktischen Anwendung der Logotherapie in Buchform niederzulegen. Ich selbst hätte mir damals nicht zugetraut, ein Buch zu schreiben, aber er insistierte, und buchstäblich ihm zuliebe entstand mein Erstlingswerk. Das Eis war gebrochen … Und wie kam ich zu meinen wunderbaren Schülerinnen und Schülern? Sie verdanke ich meinem Mann, der im Jahr 1985 die Initiative ergriff und die schwierigen Wege ebnete zur Gründung unseres süddeutschen Logotherapie-Instituts in Fürstenfeldbruck bei München. Ich selbst hätte mir damals nicht zugetraut, ein Wissenschaftsinstitut mit psychotherapeutischer Ambulanz zu leiten, aber er glaubte an mich, und so entstand in Kooperation eine Ausbildungsstätte, die im Laufe der Jahre mehr als tausend Logotherapieexperten und -expertinnen hervorbringen sollte. Deshalb will ich meine heutige Ehrung diesen beiden Personen widmen: Herrn Prof. Frankl und meinem Mann. Sie beide haben meine gesamte Entwicklung in ausschlaggebender Weise mitbestimmt. Beide waren für mich wie zwei Leuchttürme in stürmischer See, die dafür sorgten, dass mein Lebensschiffchen nicht kenterte, nicht unterging, sich nicht irgendwo in der Dunkelheit verlor.
Ich bedauere sehr, dass mein Mann derzeit im Krankenhaus ist und nicht bei uns sein kann. Aber ich spüre, dass er in seinen Gedanken hautnah bei mir ist, gleichsam an meiner Seite steht, wie er immer gestanden hat. Um dies nur an einer der unzähligen kleinen Gesten zu illustrieren: Wenn ich in den USA oder in Kanada Vorlesungen gehalten habe, hatte mein Mann die einmalige Gelegenheit, ein paar Rundflüge zu absolvieren. Denn er besaß die amerikanischen Fluglizenzen, und das Flugbenzin war damals dort wesentlich erschwinglicher als in Deutschland. Er aber, leidenschaftlicher Pilot, blieb bei mir im Hörsaal sitzen, an meiner Seite. Was Herrn Prof. Frankl betrifft, so hat er berührende Abhandlungen über das geistige „Bei-Sein“, das „Bei-den-Dingen-unseres-Interesses-Sein“, das „Bei-den-Menschen-unserer-Liebe-Sein“, verfasst, ein „Bei-Sein“, das sich zwar körperlich ausdrücken möchte, aber nicht auf Körperlichkeit angewiesen ist, weswegen ich mir gut vorstellen kann, dass auch er gerade jetzt irgendwie in unserer Mitte weilt.
Aus der Einsicht heraus, wie wichtig Ermutigungen im rechten Augenblick sind, möchte ich nun meinerseits die Verantwortlichen der Moskauer Universität ermutigen, sich nicht von etwaigen Hindernissen oder psychologischen Gegenströmungen irritieren zu lassen und die begonnene Integration des Franklschen Gedankengutes in ihr Unterrichtsvolumen fortzusetzen. Es wird sich für sie und ihre Studenten vielfach lohnen.
Wahrscheinlich gehe ich nicht fehl in der Annahme, dass sich in Russland in den letzten Jahrzehnten eine Menge verändert hat. Die Menschen haben eine bewegte Vergangenheit hinter sich. Auch hier in Mitteleuropa gab es massive Umbrüche. Das griechische Wort „panta rhei“ (alles fließt) beinhaltet eine tiefe Wahrheit. Das Franklwort „Jede Zeit hat ihre Neurose, und jede Zeit braucht ihre Therapie“ ist ebenfalls zutiefst zutreffend. Allein während meines bisherigen Lebens habe ich die unterschiedlichsten Stadien hierzulande beobachten können. Vielleicht ist es erhellend, wenn ich sie kurz anskizziere, wobei ich selbstverständlich nur von meinem heimatlichen Umfeld berichten kann:
- Da war zunächst die Armut der Nachkriegszeit. Ich war ein Kind, und wir hatten – wie die meisten – kaum das Nötigste zum Leben. Keine Spielsachen, keine Heizung im Winter usw. Ich erinnere mich, dass mein Großvater einmal mit einem Rucksack auf dem Rücken quer durch ganz Wien zu den Äckern nördlich der Donau marschiert ist, weil es hieß, dort gäbe es Kartoffeln zu kaufen. Als er abends erschöpft und mit leerem Rucksack zurückkehrte, weil er zuspät gekommen war, hörte ich meine Mutter weinen. Trotzdem habe ich diese Zeit in voller Geborgenheit erlebt. Man hielt zusammen, half sich gegenseitig, und es gab noch verbindliche Werte.
- Dann war da der aufkeimende Wohlstand der 1950er Jahre, und mit ihm die große Freude. So viel Freude wie damals habe ich nie wieder in meinem sozialen Umkreis wahrgenommen. Ich besuchte das Gymnasium und war glücklich. Man konnte sich ein Buch kaufen, ein neues Kleid leisten und – o Gott! – ein Fahrrad bekommen! Es war wie ein Rausch, und es endete wie ein Rausch.
- Das Wirtschaftswunder der 1960er Jahre überrollte uns und zerbröselte alle tradierten Werte. Die Sexwelle schwappte über uns hinweg, die Autoritäten wurden vom Sockel gestoßen, die Menschen gerieten außer Rand und Band. Jeder wollte sich plötzlich selbst verwirklichen, egal auf wessen Kosten. Es war die Zeit meines Studiums, und ich wurde von den Trends dieser Umsturzperiode mitgerissen. Wäre ich nicht Herrn Prof. Frankl begegnet, ich weiß nicht, in welchem Psycho-Irrgarten ich mich damals verlaufen hätte.
- Nun, der Wohlstand breitete sich aus, und die Freude erlosch. In den späten 1970er Jahren wuchs eine neue Generation heran. Die „No-future-generation“, wie sie sich selbst spöttisch nannte. Ihr Markenzeichen war „Nullbock auf nichts“. Da ich bereits der Logotherapie kundig war, erkannte ich die Symptome des „existentiellen Vakuums“, das um sich griff und die Menschen in seinen Schlund zog. Es gab Autos und Wohnungen für jedermann, es gab genügend Jobs, es gab alle Freiheiten, die sich die Bürger nur wünschen konnten, es gab die Chance zu abenteuerlichen Urlaubsreisen … und es gab zunehmend mehr Depressionen, Suizide, ausgeflippte Jugendliche, Drogenabhängige und sinnlose Gewalt- und Zerstörungsdelikte. Ich arbeitete schon als Psychologin und lernte das unnötige, das selbst fabrizierte Leid bei meinen Klienten kennen, den Kummer, den sie sich und anderen zufügten aus purem Mißmut, Verdruß, aus Langeweile, Gleichgültigkeit, Egoismus. Eingedenk des geflügelten Wortes: „primum vivere, deinde philosophari“, zu gut deutsch „Erst kommt das Fressen und dann die Moral“ lernte ich: Bei zuviel „Fressen“ kommt keine Moral mehr. Mit geradezu prophetischen Fähigkeiten hat Frankl schon vor dem 2. Weltkrieg, als von Luxus und exzessiven Lebensgenüssen nicht einmal geträumt werden konnte, vorausgesagt, dass es dem Menschen seelisch nicht bekommt, wenn es ihm rein äußerlich und materiell allzu gut geht.
- Die Entwicklung raste weiter, und zwar weltumspannend. Mit der elektronischen Datenverarbeitung und der Globalisierung dämmerte ein neues Zeitalter herauf. Plötzlich war alles vernetzt, und die Probleme der Welt rüttelten am Wohlstand der verwöhnten Völker. Gegen Ausklang des vorigen Jahrhunderts bildete sich ein Bewusstsein, dass die Ressoucen knapper zu werden beginnen. Jobs und Geld verdünnten sich. Aber so wenig viele Menschen hierzulande den Wohlstand wertgeschätzt hatten, so wenig waren und sind sie bereit, auf ihn zu verzichten. Ihre Mentalität begann sich in Richtung unserer gegenwärtigen Gesellschaft zu formen. Man arbeitet fleißig, um sich einen hohen Lebensstandard zu bewahren, aber der Stress hat seinen Preis. Mobbing, Neid, Konkurrenzgerangel, Panikattacken, Burnout- und Überlastungssymptome sind die aktuellen Psychothemen. Dazu die Sucht nach dem Wegdriften vor dem Bildschirm, der mehr und mehr die Seelen der Zuschauer lenken und vereinnahmen darf. Wirtschaftskrise, Energiekrise, Familienkrise sind die Standorte von heute. Dazwischen sprießt eine unendliche Sehnsucht nach Ruhe, Stille, Frieden, Wellness, nach einem einfachen Leben statt dem permanenten Daseinskampf sowohl am Arbeitsplatz als auch in den verwickelten zwischenmenschlichen Beziehungen, wie sie ringsum üblich sind. Ich selbst bin aus dem Stress heraus, bin nicht mehr berufstätig, lebe seit 44 Jahren in einer glücklichen Ehe und habe ein gutes Verhältnis zu unseren Kindern, aber ich fühle ein großes Mitleid mit meinen jüngeren Zeitgenossen.
In all diesen Phasen, die ich aufgezählt habe, war die Sinnfrage präsent. Sie flackert auf in der Armut und im Reichtum, in der Not und im Überfluss. Bei sorgfältiger Betrachtung der genannten Verläufe zeichnet sich jedoch eine Tendenz ab, die Frankl schon lange geahnt und mit dem wachsenden Traditions- und Instinktverlust des Menschen erklärt hat, nämlich dass wir in unserem digitalen Zeitalter bei der Beantwortung der Sinnfrage immer mehr allein gelassen sind. Es ist mittlerweile beängstigend schwer geworden, sich auch nur eine Meinung zu bilden, die irgendwie sinnuntermauert ist. Ist es sinnvoll, gentechnisch gezüchtetes Getreide anzubauen? Ist es sinnvoll, gleichgeschlechtlichen Partnern Kinder anzuvertrauen? Ist es sinnvoll, Kredite an ausländische Firmen zu vergeben? Ist es sinnvoll, persönliche Informationen ins Internet zu stellen? Täglich rollt ein endloser Fragenkatalog an uns vorüber mit Fragen, die der Einzelne überhaupt nicht sachlich und vernünftig beantworten kann, weil sich Für- und Gegenargumente schier die Waage halten. Und weil die Medien die dominierenden Meinungsmacher sind, die, je nach wirtschaftlichem, politischem oder religiösem Couleur den Einzelnen mit ausgewählten Pseudo-Argumenten überhäufen, deren er sich kaum erwehren kann. Jeder Fernsehspot erzählt versteckt von irgendeinem „Sinn“ der Aktionen seiner Akteure, und es bedarf einer starken Charakterfestigkeit – besser noch: Enthaltsamkeit -, um sich den subtilen Manipulationen zu entziehen. In Russland oder in anderen Erdteilen mag die Situation variieren, dennoch wird es gewiss auch dort zunehmend zum spannenden Unternehmen jeder einzelnen Person, angesichts der vielfältigen Gegensätze und Einflüsse im individuellen Leben Sinn zu finden und die eigenen Handlungen dem Sinn gemäß zu gestalten. Wir erleben, psychologischen Studien zufolge derzeit eine „Renaissance der Sinnfrage“, was mich nicht wundert, weil der Sinn eben so fraglich, geradezu fragil geworden ist.
Was hat also die Franklsche Lehre, die schon vor fast hundert Jahren dem Sinnphänomen auf der Spur gewesen ist, angesichts der extremen Umwälzungen der Postmoderne anzubieten? Sie sehen, ich reversiere das Kongressthema ein bisschen. Um die „Zukunft der Logotherapie“ mache ich mir keine Sorgen, die Logotherapie wird stetig an Bedeutung gewinnen; aber um die „Zukunft selbst“ kann man sich schon einige Sorgen machen, weshalb ich der Frage nachgehen möchte, welche Perspektiven denn die Logotherapie für die Zukunft bereit hält? Nun, ich sage Ihnen: es gibt im Franklschen Lehrgebäude profunde Hoffnungsaspekte, die brandaktuell sind. Vier davon möchte ich erwähnen, weil sie mir besonders wichtig erscheinen.
Da ist erstens der Aspekt, dass sich das Gewissen – das „Sinn-Organ“ des Menschen – zwar schrecklich langsam, aber dennoch mit fortschreitender Kultur verfeinert. Wir sind so kurzlebige Wesen, dass wir diesen Eindruck nicht haben. Aber Frankl mit seinem Weitblick beobachtete, dass es über die Pathologien des jeweiligen Zeitgeistes hinaus sozusagen Gesinnungsmutationen im großen Stil gibt und in der Geschichte wiederholt gab, die in positive Richtung anschieben. Er zeigte es am Beispiel der Sklaverei auf, die einst für legal befunden wurde, aber mittlerweile weltweit geächtet ist. Ähnlich brodelt es gegenwärtig in den Gesinnungen und Einstellungen speziell jüngerer Menschen quer über den Erdball. Mit angestoßen durch die modernen Kommunikationsmittel, die alles unvergleichlich transparenter machen als früher, stehen mehr und mehr Völker auf gegen Diktaturen, Korruption, Terror und Thyrannei. Leider gehen solche Massenproteste in den seltesten Fällen ohne den Einsatz von Waffen ab, was keinesfalls zu einer kollektiven Gewissensrevolte passt. Trotzdem ist es ein Hoffnungsschimmer am Horizont, dass es brutale Machthaber allmählich schwerer haben, ihre Untertanen zu knebeln und auszubeuten, weil der Widerstand und das Selbstbewusstsein der Völker wächst und sie um Freiheit, Selbstbestimmung und die Wahrung ihrer Menschenrechte ringen.
Joseph Fabry, ein langjähriger Freund von Prof. Frankl, erzählte einst von einer Diskussion, bei der Frankl das Gewissen nicht nur als den intimsten Wegweiser der Einzelperson, sondern auch als ein Werkzeug des menschlichen Fortschritts bezeichnet hat. Frankl meinte – ich zitiere: „In einer Gesellschaft, die den Kannibalismus tolerierte oder gar postulierte, konnte nur ein Mensch mit einem hochentwickelten Gewissen die Kraft aufbringen, den allgemein anerkannten Normen, die auch ihm eingetrichtert worden waren, zu widersprechen. Indem er aber solcherart seinem Gewissen gehorchte – einem Gewissen, das den Kannibalismus eben abzulehnen wagte -, wurde er zum Revolutionär. Vielleicht verlor er sein Leben; aber er hatte das Gewissen anderer Menschen wachgerüttelt! Und ich denke, das ist die Art und Weise, in der menschlicher Fortschritt vor sich geht …“, so Frankl im Gespräch mit Fabry.
Nun, das Beispiel ist exzellent gewählt, denn es impliziert nicht, dass der Antikannibale seine Mitbrüder und Mitschwestern, die noch Kannibalen waren, attackierte oder gar ausrottete. Der „Revolutionär“ in Frankls Bild ist friedlich, er verweigert bloß, selber die menschliche Würde zu beschädigen, und nimmt notfalls die Konsequenzen in Kauf. Wenn sich demnach der heute anschwellende Protest der Völker gegen herrschende Ungerechtigkeiten, gegen die Verelendung vieler bei maßloser Bereicherung weniger u. ä. paaren würde mit der grandiosen Errungenschaft des gewaltlosen Widerstandes, mit einem freiwilligem Gewaltverzicht aus Überzeugung, dann wäre tatsächlich ein Fortschritt der Menschheit in Reichweite.
Der zweite Aspekt der Hoffnung, den ich zu entdecken vermeine, ist die grassierende Sehnsucht nach dem Innehalten mitten in der täglichen Hektik. Schon vor 20 Jahren hat der Slogan, man sei „reif für die Insel“, für Schmunzeln, aber auch für ein beachtliches Echo gesorgt. Seither geistert der Traum von einer „Auszeit“, die man sich, wenn nur irgendwie finanzierbar, gönnen möchte, durch die Köpfe zahlreicher Menschen. Nicht immer sind Fluchttendenzen seine Basis. Es ist ein Sensus dafür entstanden, dass man aus dem berüchtigten Hamsterrad aussteigen will, dass es eine Chance geben müsste, der ständigen Reizüberflutung zu entrinnen und schlichter, aber dafür bewusster und authentischer zu leben. Wenn dies auch meistens nicht gelingt, so verdichtet sich doch eine diesbezügliche Vision in den Herzen vieler Menschen, eine Vision, die in ihrer Intensität mehr und mehr fruchtbar werden könnte.
Herr Prof. Frankl hat in einem Rundfunkvortrag dafür plädiert, dass – ich zitiere: „… der Mensch es wieder lernt, für einige Zeit, etwa für ein Weekend, in die Wüste zu gehen – und Wüsten gibt es nahe von uns, gibt es überall. Sei es ein Hüttenbummel in den Bergen, sei es eine einsame Bucht an einem Ufer. Dort kann man seine Gedanken wenigstens zu Ende denken …“, so Frankl, der schon in seiner Jugend selbst als ein „Zu-Ende-Denker“ bezeichnet worden ist.
Ja, das Denken – sehen Sie, es gibt nicht nur der Gefühle zweierlei: die rein psychisch-animalischen Gefühle wie Hunger, Angst, Wut, Begierde usw. und die im spezifisch Humanen gründenden Gefühle der Werteempfindung, der Freundschaft, der Begeisterung, der künstlerischen oder wissenschaftlichen Faszination usw., wie im Buch „Der unbewusste Gott“ von Frankl beschrieben. Nein, es gibt auch der Gedanken zweierlei: die cortikale Verstandesleistung in Kombination von Intelligenz, Gedächtnis, logischem Denken etc., und die wiederum spezifisch humane Ebene von Erkenntnis, Einsicht und Weisheit, in der auch so etwas die reine Physiologie Überschreitendes wie Sinnerfassung ihren Platz findet.
Frankl hatte völlig recht: Nur in der Stille, in der Reizabschottung, sozusagen in der persönlichen „Wüste“, kann man in Ruhe nachdenken, etwas zu Ende denken, kann man spüren, was man wirklich will und soll, kann man jenes „gerade jetzt Sinnvolle“ in Klarheit erschauen, dem man sein volles Ja zu schenken vermag. Diese Art von Denken ist jedoch für einen Großteil der Menschen inzwischen ungewohnt geworden.
Ich möchte Ihnen dazu ein simples Beispiel erzählen. Ich habe meine ersten zehn Bücher noch auf der Schreibmaschine getippt. Das war mühsam, denn jede Seite musste mehrmals geschrieben werden, vom Rohentwurf bis zur schlussendlichen Textausfeilung. Da man auf der Schreibmaschine Fehler schlecht ausbessern konnte, entwickelte man damals die Fähigkeit, innerlich ganze Absätze druckfertig vorzuformulieren und gleichsam in einem Guss niederzuschreiben. Es herrschte das Prinzip: „Erst denken – dann handeln“, das heißt, sich erst einen Satz auszudenken, und ihn dann niederzulegen. Als die Computer aufkamen, wurde es unvergleichlich bequemer, und niemand möchte die elektronische Textverarbeitung mehr missen. Aber das Prinzip drehte sich um. Da man am PC alles problemlos korrigieren, verschieben, löschen und neu konzipieren kann, herrscht heute eher das Prinzip: „Erst handeln – dann denken“, das heißt, erst irgendeinen unausgegorenen Satz einzutippen, und dann das Getippte auszubessern oder zu verwerfen. Beim Buchschreiben ist das vielleicht nicht tragisch, aber im Leben ist „Erst handeln – dann denken“ absolut kein empfehlenswertes Prinzip, denn so manche unbedachte Handlung, die eben nicht mehr korrigierbar ist, gerät zum Bumerang.
Im Leben muss auch die heutige Generation beim bewährten „Erst denken – dann handeln“ bleiben bzw. dorthin zurückkehren, und das kann sie umso leichter, als sie an regelmäßige Ausflüge in die private Wüste gewöhnt ist, dorthin, wo man in Ruhe nachdenken und „zu Ende denken“ kann. Wo man innerlich zu sich kommen kann. Wo man den Sinnanruf der Stunde vernehmen kann. Allerdings fordert dieser regenerierende Gang in die Wüste ein Opfer, nämlich: Selbstbeschränkung, Bescheidenheit. Wer seine Freizeit vollstopft mit Evants und Vergnügungen, mit Shopping, Surfen, Telefonieren und sonstigen Zerstreuungen, dem ergeht es genau wie demjenigen, der seine Wohnung vollstopft mit lauter Zeug, das er gar nicht braucht: er versinkt im Zuviel. Entrümpelung, Entschleunigung und eine neue Genügsamkeit hingegen wären die befreienden Elemente, die die innersten Sehnsüchte der Menschen zumindest in unserer westlichen Gesellschaft in hohem Maße erfüllbar machen würden – und zwar Sehnsüchte ganz anderer Art, als zu erfüllen die pausenlose Werbetrommel verspricht. Hoffen wir deshalb auf eine neue Kultur der Nachdenklichkeit – sie könnte das Antlitz der Erde im Guten verändern helfen.
Die Erwähnung des PCs leitet über zu einem weiteren Hoffnungsaspekt, der sich entgegen allen Unkenrufen in den Wirrnissen unserer Zeit herauskristallisiert. Der Mensch hat sich ein drittes Gehirn geschaffen. Zusätzlich zu seinem archaischen Hirnstamm mit den automatischen und homöostatischen Funktionsregulationen und zusätzlich zu seiner enorm integrativen Assoziationsrinde, dem Neocortex, hat der homo sapiens nunmehr den Hochleistungscomputer zur Hand, der mit seiner ungeheuren Datenspeicherung und seinen blitzschnellen Suchprogrammen Informationen liefern kann, zu denen das menschliche Analysieren und Forschen allein niemals gelangen könnte. Noch dazu handelt es sich bei den von Computern erhobenen Informationen um solche, die nicht von Emotionen und Vorurteilen eingetrübt sind, wie es bei den Denkvorgängen des menschlichen Gehirns der Fall ist.
Freilich kann alles missbraucht werden, wie manche schlimmen Erfahrungen mit dem Internet zeigen. Wie klug äußerte sich Frankl in seinem Wort, dass es nie und nimmer auf eine Technik ankomme, sondern stets auf den Geist, in dem sie gehandhabt werde. Doch von jeglichem Mißbrauch abgesehen, eröffnet dieses „dritte Gehirn“ dem Menschen nie geahnte Möglichkeiten, in die Geheimnisse der Seinsrealität, die uns umgibt und inkludiert, vorzudringen, kurz, die Realität besser kennen zu lernen, sie besser zu verstehen.
Jeder, der je mit Ratsuchenden therapeutisch gearbeitet hat, weiß, wie viel von einer angemessenen Realitätseinschätzung abhängt. Nicht nur, dass Realitätsverkennungen das Leben psychotisch kranker Patienten dramatisch überschatten. Auch neurotisch kranke Patienten leiden unter realitätsinadäquaten Angstvorstellungen und scheinbar dräuenden Ich-Untergängen. Ja, selbst Menschen, die man als seelisch gesund einstufen würde, agieren mitunter wider ihre realistische Situation, indem sie etwa Schulden machen, die sie nicht zurückzahlen können, Nahrungsmittel konsumieren, die ihnen schaden, oder vorschnelle Zusagen geben, denen sie nicht gewachsen sind. Realitätsverkennungen sind selbststrafende Prozesse mit generell schlechtem Ausgang, im Kleinen wie im Großen. Historiker haben zum Beispiel nachgewiesen, dass beide entsetzlichen Weltkriege des vorigen Jahrhunderts mit puren Fehleinschätzungen der Realität begonnen haben, und dies nicht nur in den Führungsetagen der politischen Spitzengremien, sondern durchaus auch in breiten Bevölkerungsschichten. Je mehr sich Ideologien verfestigen, desto mehr entgleiten sie der Realität.
Das „dritte Gehirn“ der Menschheit kann, richtig gebraucht, mithelfen, die Realität korrekter einzuschätzen. Mit seiner Hilfe ist es gelungen, ein Fahrzeug auf dem Mars zu landen – um nur ein Detail unter Millionen herauszugreifen. Um einen solchen Erfolg zu verbuchen, bedurfte es einer immensen Präzision und Aufschließung physikalischer Zusammenhänge. Der geringste Fehler, etwa bei der Flugbahnberechnung, hätte das gesamte Projekt gekippt. Natürlich können die Computer nicht definieren, ob es überhaupt sinnvoll ist, auf dem Mars zu landen. Aber wenn uns Menschen etwas als sinnvoll dünkt, dann können sie uns unter Umständen verraten, ob und wie es zu realisieren wäre.
Wir sind von dem Problem ausgegangen, dass es in der Komplexität unserer Epoche schwieriger geworden ist, das Sinnvolle vom Sinnwidrigen zu unterscheiden. Niemand und nichts kann uns diese Aufgabe abnehmen, sie bleibt die Verantwortlichkeit des menschlichen Wesens schlechthin. Doch angesichts dieser Schwierigkeit können die immer tüchtiger werdenden Maschinen minuziöse Informationen liefern zur Umsetzbarkeit von Plänen, zur Vorhersagbarkeit der Folgen unseres Handelns, zu den realistisch erwartbaren Auswirkungen gravierender Eingriffe in die Natur usw. Sie können in den Dienst der Sinnsuche und Sinnfindung gestellt werden, indem sie Illusionen ausfiltern und Ideale mit Machbarkeit verknüpfen. Voraussetzung dafür allerdings ist, dass sie eben „in den Dienst gestellt“, das heißt, Diener sind, dass der Mensch sie beherrscht, und nicht sie den Menschen beherrschen. Daran ist zu arbeiten, und ich glaube, das ist die größte Arbeit, die heute von der Jugend zu vollbringen ist: die Computer ein- und auszuschalten; sie zu sinnorientierten Zwecken zu benützen ohne sich ihnen und ihren Verlockungen zu unterwerfen. Wenn sie das schafft, kann sie sich unter Einsatz ihres „dritten Gehirns“ sagenhaft vielversprechende Optionen für die Zukunft erobern.
Einen vierten Aspekt der Hoffnung möchte ich noch streifen. Die umstrittene Globalisierung, die die Gemüter in Aufruhr versetzt, ist sicherlich nicht zurückzudrehen. Im Gegenteil, alles auf dieser Erde vermischt sich, und jedes Geschehnis greift in andere Geschehnisse mit ein. Die einzelnen Nationen können nicht mehr „ihr je eigenes Süppchen kochen“; andere Nationen werfen ihnen fremde Zutaten in den Topf, ob es ihnen schmeckt oder nicht. Man kann sich darüber beklagen, dagegen wettern, nur wissen wir aus der Psychotherapie, dass Kontrapositionen an und für sich nicht konstruktiv sind. Konstruktivität liegt stets in einem kreativen Dafür-Sein, in diesem Fall: für einen Globus sein, der es wert ist, bewohnt zu werden. Der Franklausspruch „Die Welt ist nicht heil, aber heilbar“ gilt auch und ganz besonders in unseren Tagen. Was könnte also zur Heilung beitragen im Zeitalter des unaufhaltsamen und ständig engeren Zusammenrücken-Müssens der Völker?
Überlegen wir: Warum reibt es sich so stark zwischen nahen und fernen Nachbarn? Die Antwort lautet: Weil sie so verschieden sind. Verschiedene Rassen, verschiedene Weltanschauungen, verschiedene Parteien, verschiedene Wünsche und Sorgen, verschiedene Kapazitäten, verschiedene uralte Anpassungen an verschiedene Lebensräume … eine endlose Verschiedenheit – wie sollen sie sich da verstehen? Dennoch gibt es eine große, eine großartige Gemeinsamkeit unter ihnen, und es ist in der Tat Herrn Prof. Frankl zu verdanken, dass wir nicht nur ein vages Gefühl dafür haben, sondern ein gewichtiges Wort dafür besitzen: jeder Mensch eines jeden Volkes ist eine geistige Person. Das ist das einzig grundlegend Gemeinsame von uns allen. Das ist es, was uns verbindet: Geistigkeit und in einem damit Freiheit, Verantwortung, Schöpfungspotential und die uneingeschränkte, unantastbare Personenwürde.
Obwohl es erstaunlich klingt, könnte just das Phänomen der Globalisierung mithelfen, dieses Gemeinsame in den Blickpunkt zu heben. Über das Begreifen, dass unser Wohl und Wehe zusammenhängt, dass keiner mehr ausscheren kann, etwa aus sich anbahnenden Katastrophen wie Klimagefahren u. ä., und dass es uns langfristig nur noch gemeinsam gut oder schlecht gehen wird, könnte sich unisono ein Credo entwickeln, das ungefähr dem entspricht, was Frankl bereits vor Jahrzehnten eingefordert hat: ein Monanthropismus. Der Glaube an die eine Menschheit, der wir alle angehören. Ein Glaube, der sämtliche Verschiedenheiten zu überbrücken vermöchte, die uns heute so verzweifelt umtreiben.
So erlauben Sie mir, als einer der ältesten Schülerinnen Frankls, zusammenfassend dem Ausdruck zu verleihen, was Frankl vermutlich den sinnsuchenden Menschen des angebrochenen 21. Jahrhunderts mit auf den Weg geben würde. Vermutlich würde er sagen: „Steht auf! Steht auf gegen die permanente Leidverursachung ringsum, entfaltet euer Feingespür für die wahren Werte und setzt euch ein für Toleranz und gegenseitige Achtung – aber verzichtet dabei auf Gegenaggressionen und auf jegliches kämpferisches Wüten.“ Hat uns doch Frankl gelehrt, dass die schlechten Mittel den besten Zweck entweihen. Hat er uns doch in seinem erschütternden Theaterstück mit seinem Appell: „Wir wollen nicht wieder und immer wieder Unrecht mit Unrecht vergelten, Hass mit Hass erwidern und Gewalt mit Gewalt! Die Kette .. die Kette … die muss endlich gesprengt werden!“ ein Vermächtnis hinterlassen, wie es eindringlicher nicht sein könnte.
Vermutlich würde er des weiteren sagen: „Bescheidet euch, lasst euch nicht blenden von den Sirenenrufen des Massenkonsums und zieht euch öfters zwischendurch zu erholsamen Minipausen in eure persönliche Wüste zurück. Lauscht dort der Stimme der Transzendenz!“ Hat uns Frankl doch geraten, in einer Zeit, in der die 10 Gebote an Geltung zu verlieren scheinen, die 10.000 Gebote zu beachten, die in den 10.000 Situationen unseres komplizierten Lebens verschlüsselt sind. Wie aber soll jemand 10.000 Gebote vernehmen? Ganz einfach, in der Stille werden sie ihm Stück für Stück offenbar, und zwar nicht als strenge Befehle von „oben“, sondern als zärtliche Zuflüsterungen des treuesten Freundes, den wir haben, unseres Gewissens.
Vermutlich würde Frankl fortfahren, indem er sagt: „Ihr habt euch inzwischen ein fantastisches technisches Repertoire angeeignet, das euch gigantische Möglichkeiten zuspielt, aber geht sorgfältig damit um! Alle Technik bedarf einer Kontrolle durch etwas Metatechnisches, um sich nicht gegen seine eigenen Erfinder zu wenden!“ Erläuterte Frankl doch an Hand der psychotherapeutischen Techniken, dass sie sich verbinden müssen mit der Kunst und Weisheit des Therapeuten, und dass selbst Kunst und Weisheit noch nicht genug sind, wenn da nicht die Menschlichkeit dazukommt; die Menschlichkeit, die der Technik erst den ihr gebührenden Platz einräumt und einbegrenzt.
Eine letzte Vermutung: Frankl würde sagen: „Vergesst nie, ihr seid die Wesen, die immer entscheiden. Entscheiden, was sie im nächsten Augenblick sein werden. Ihr seid kraft eures geistigen Potentials aktive Mitgestalter eures Schicksals. Vereint in einer Menschheit seid ihr aktive Mitgestalter der Menschheitsgeschichte. Ihr schreibt mit euren Taten in ein Geschichtsbuch, in dem nichts mehr ausradiert werden kann, weder Glorreiches noch Grauenvolles, in dem aber noch blanke, leere Seiten unbekannter Anzahl vor euch liegen, die am Ende von euch zeugen werden. Macht ein Gemeinschaftsepos daraus, das eurer würdig ist!“ Ich erinnere mich an eine Anekdote Frankls, wonach Schulkinder total zerstritten waren bis zu dem Tag, an dem ihr Ferienbus im Morast stecken blieb. Plötzlich mühten sie sich Schulter an Schulter ab, um den Bus wieder flott zu bekommen, und alle Unstimmigkeiten waren wie weggeblasen. Frankl betonte, dass nichts so friedenstiftend sei wie die Hingabe an eine gemeinsame sinnvolle Aufgabe. Weshalb er vielleicht schließen würde mit den Worten: „Nehmt euch diese Schulkinder zum Vorbild! Es gibt genug Kostbares auf der Welt, das ihr mit vereinten Kräften aus dem Morast ziehen könnt. Geht getrost ans Werk, Schulter an Schulter, jeder von euch mit seinen Talenten, auf dass sich der ‚tragische Optimismus‘, den ich in meiner Lebensspanne gehegt habe, in eurer Lebensspanne allmählich wandeln möge zu einem – berechtigtem Optimismus!“
Ja, schöner als Herr Prof. Frankl kann man es nicht ausdrücken, und so danken wir ihm für seine inspirierenden Thesen; und ich danke Ihnen fürs Zuhören.