Mensch bleiben im Krieg
Elisabeth Lukas
Mensch bleiben im Krieg
Gedanken von Viktor E. Frankl
1942 geboren, bin ich ein Kriegskind und im zerbombten Wien aufgewachsen. Aus meinen frühen Erinnerungen kenne ich den Hunger, die ständigen Stromausfälle oder das Frieren in den dünnen Mänteln im Winter. In meiner Kindheit gab es keine Spielsachen, und viele meiner Schulfreundinnen vermissten ihre Väter, die aus dem Krieg nicht heimgekehrt waren. Ich habe eine Ahnung davon, welch unnötiges und unfassbares Elend bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Völkern bewirken. Deswegen gehört mein tiefstes Mitgefühl allen Menschen, die derzeit schuldlos unter dem Terror verantwortungsloser Machthaber zu leiden haben. Sie sind mit einer Schicksalsfügung konfrontiert, die ihre freie Entwicklung einschränkt und ihnen Notwendigkeiten aufzwingt, die sie sich niemals ausgesucht hätten.
Auch mein Lehrer Viktor Frankl konnte sich im 2. Weltkrieg sein Schicksal nicht aussuchen. Er ist ebenso unschuldig in einen Strudel von Brutalität und Gewalt hineingezogen worden – und dass er sein nacktes Leben gerettet hat, grenzt an ein Wunder. Er verlor seine Liebsten und musste sich mühsam aus Trauer und Verzweiflung zu einem „trotzdem Ja“ zum Weiterleben und zu einem schwierigen Neuanfang durchringen. Dasselbe wird eines Tages den Bewohnerinnen und Bewohnern der vom Krieg heimgesuchten Länder bevorstehen. Die Waffen werden wieder schweigen, aber das Unheil, das sie angerichtet haben, wird noch lange Schatten werfen.
In dieser Situation gibt es nichts zu sagen, das wirklich trösten könnte. Deswegen möchte ich nur auf eines hinweisen: Der Hass hat das unselige Potential, sich fortzupflanzen, von Gegner zu Gegner, von Ideologie zu Ideologie, von Volk zu Volk, von Mensch zu Mensch. Dabei sitzt der Hass nirgendwo anders als im eigenen Herzen und klemmt es ein. Drückt es zusammen. Presst alle Funken der Liebe, Fairness und Empathie aus ihm heraus und vernichtet sie. Viktor Frankl war weise, als er bei einer Gedenkfeier zum Ende des 2. Weltkriegs am Wiener Rathausplatz vor Tausenden Zuhörerinnen und Zuhörern sagte: „Erwarten Sie kein einziges Wort des Hasses von mir!“
Niemand kann mit Hass im Herzen gut weiterleben, denn der Hass bindet mit ehernen Fesseln an das Gehasste, so sehr man sich davon los strampeln möchte. Wer einen anderen Menschen hasst, der hat ihn ununterbrochen im Konzentrationsspeicher seiner Emotionen und Kognitionen. Der geht buchstäblich abends mit ihm schlafen und steht morgens mit ihm wieder auf. Der wird nicht nur nicht mehr „von Herzen“ froh, sondern auch nie mehr beschwingt und unbelastet genug für die kreative Gestaltung seiner eigenen Gegenwart und Zukunft.
Als Viktor Frankl von der Universität Porto Alegre in Brasilien im Zuge eines Ehrendoktorats, das er dort erhielt, für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde, erläuterte er einen weiteren überraschenden Aspekt: Niemand verdient es, gehasst zu werden. Denn jeder Mensch ist eine einzigartige, wertvolle Person, der unser Respekt und unsere Achtung gebühren. Was abzulehnen sein kann, ja, was absolut verabscheuungswürdig sein kann, das ist das Verhalten einer Person. Es ist legitim, ein grausames Verhalten auf das Schärfste zu verurteilen. Doch die Person selbst ist ein menschliches Wesen und als solches weder ein Engel noch ein Teufel, sondern „jemand, wie wir“. Denn auch wir – und es ist hilfreich, dies nie zu vergessen, – auch wir sind keine reinen Engel. Auch unsere Verhaltensweisen sind nicht immer nur lobenswert.
Als Psychiater wusste Viktor Frankl sehr wohl um die Gefahr eines Posttraumatischen StressSyndroms, als er aus der Hölle des Konzentrationslagers in seine Heimat zurückkehrte. Das Problem war nicht so sehr, Familie und Karriere wieder vom Nullpunkt aus aufzubauen. Das Problem war, mit den Horrorbildern fertig zu werden, die ihm nachhingen, und die unfruchtbare WarumFrage niederzukämpfen, die sich ihm zwangsläufig aufdrängte. Jetzt mussten sich seine schon vor dem Krieg entwickelten therapeutischen Thesen bewähren. Und sie bewährten sich glänzend.
Zu diesen Thesen gehört Frankls Überzeugung, dass der Mensch geistig Stellung nehmen kann zu allem und jedem in und außerhalb von sich selbst, und zwar eine Stellung seiner Wahl. Selbst wenn ein Sachverhalt unveränderbar ist, kann der Mensch, wenn er gar keine Wahl mehr hat, als Letztes noch seine innere Einstellung dazu ändern, wenn es notwendig ist. Also änderte Viktor Frankl seine Einstellung zum durchlittenen Leid. Er funktionierte es um in eine Erfahrungskompetenz, die ihn ermächtigte, sowohl künstlerisch (in einem von ihm kreierten Theaterstück) als auch wissenschaftlich (in seinen Büchern) über Strategien zu berichten, die von Schmerz gepeinigte Menschen wieder aufzurichten vermögen. Indem er sich mit seinen Mitteln als großartiger Arzt und Psychologe, der er war, intensiv um den „Homo patiens“, den leidenden Menschen annahm, sei es als Therapeut in seiner neurologischen Praxis in der Wiener Poliklinik oder sei es als Dozent vor vielen Universitätsgremien und Studentenschaften, besiegte er die Horrorbilder, die ihn einholen wollten, und wandelte sie um in Bilder menschlicher Standhaftigkeit und nicht zu brechender menschlicher Würde.
Auch die WarumFrage vermochte Viktor Frankl nichts anzuhaben. „Wir sind nicht die Fragenden“, erklärte er klipp und klar. „Das Fragen steht uns nicht zu. Wir sind vielmehr die Antwortenden.“ Wir sind die Geschöpfe, denen es vorbehalten, erlaubt und aufgetragen ist, Antwort zu geben auf die Fragen, die das Leben uns stellt. Mehr noch: Möglichst sinnvolle Antworten zu geben! Die Fragen mögen herrlich leicht oder grässlich schwer sein – aber darauf kommt es im Endeffekt nicht an! Was zählt, ist unsere jeweilige Antwort darauf, die wir dann auch zu verantworten haben. Es ist wie bei den Prüfungen in der Schule: In das Endergebnis, in die Note, die uns schließlich zuerkannt wird, fließt der Herausforderungscharakter der uns gestellten Prüfungsfragen nicht mit ein. Es zählen allein unsere Antworten …
Freilich erteilt uns das Leben keine „Noten“. Aber zünftig philosophisch betrachtet, können wir da nicht so sicher sein. Fließt doch alles einmal Getane und einmal Unterlassene, kurz alles von uns Entschiedene in unsere lebensgeschichtliche Vergangenheit hinein. Und kann doch aus dieser Vergangenheit nichts mehr herausgeschnitten werden. In der Vergangenheit ist alles, was uns oder durch uns geschehen ist, unverlierbar geborgen. Es sammelt und verdichtet sich zur „ewigen Wahrheit“, die keine Macht der Welt oder Überwelt mehr eliminieren oder korrigieren kann. Insofern ist es nicht gleichgültig, wie die „ewige Wahrheit“ über uns selbst eines fernen Tages ausschauen wird. Werden wir spätestens am Sterbebett bedauernd zurückblicken auf so manches von uns Verfehlte und Versäumte? Oder werden wir zufrieden und stolz auf das von uns Geleistete und Gemeisterte zurückblicken? Werden wir in Einklang sein können mit den „Antworten“, die wir auf die „Fragen“ gegeben haben, die uns einst umgetrieben haben? Wie werden die „Bewertungsnoten“ lauten, die wir in aller Ehrlichkeit unter unsere zu vollendende Existenz setzen?
Hier schließt sich der gedankliche Bogen zur Thematik des Hasses und sämtlicher Straf und Rachegelüste. Wir brauchen jemanden, der Gräueltaten begangen hat, gar nicht zu hassen bzw. ihm retour Böses zu wünschen. Er hat sich mit seinen Gräueltaten selbst gebrandmarkt. Für alle Ewigkeit haften sie seiner Lebensgeschichte an. Sie sind fest einzementiert darin, und kein überdimensional großer Meißel schlägt sie mehr heraus. Sollte der Betreffende sie noch so sehr bereuen, sind sie dennoch unweigerlich Teil seiner Vergangenheit und damit seiner Identität. Die Reue legt sich zwar besänftigend darüber (auch sie wird zu einem Teil seiner Vergangenheit), aber auslöschen kann sie Gewesenes nicht.
Ich erinnere mich, wie auf einem LogotherapieKongress im kanadischen Toronto Vertreterinnen einer Selbsthilfegruppe von Frauen, die als Kinder gequält und sexuell misshandelt worden waren, sagten: „Wir haben noch die Option, uns trotzdem gut zu entwickeln und zu einer vorzeigbaren Identität zu gelangen. Unser Schicksal ist escapable – wir können ihm eine positive Wende geben und damit seinem Pesthauch entfliehen. Aber die Kinderschänder, die uns geschädigt haben, haben sich selbst inescapably, also unentrinnbar zu Kinderschändern gestempelt. Auch nach ihrem Tod werden sie nichts anderes gewesen sein als einstige Kinderschänder. Sie können uns nur leid tun!“ Wer schlechte Taten setzt, straft sich selbst damit am allermeisten, nämlich inescapably!
In diesem Zusammenhang wird verständlich, warum Viktor Frankl die Idee einer Kollektivschuld grundsätzlich abgelehnt hat. Niemand kann Schuld tragen an fremden Handlungen. Jeder setzt sich mit seinen Taten sein eigenes „Denkmal“, wie Viktor Frankl es formuliert hat. Niemals darf ein ganzes Volk verurteilt werden für Entscheidungen, die über viele seiner Köpfe hinweg getroffen worden sind. Kein Sohn und keine Tochter kann etwas dafür, was Vater oder Mutter verbrochen haben. Und ob man jemandem, zum Beispiel Soldaten, abverlangen darf, bei Gefahr für Leib und Leben unethischen Befehlen den Gehorsam zu verweigern, ist auch überaus fraglich. Viktor Frankl meinte dazu lakonisch, man dürfe Heldentum nur einem einzigen Menschen abverlangen, und das sei sich selbst. Wer nicht unter Beweis gestellt habe, dass er selbst in einem extrem brenzligen Moment den Mut zum tapferen Widerstand aufgebracht hat, der halte besser den Mund.
Es gibt nur personale Schuld, und die gibt es an allen Fronten, in allen Parteien und in allen Ländern der Erde. Schuld gehört – wie Leid und Tod – zur „tragischen Trias“ des Menschseins dazu. Deshalb seien wir vorsichtig mit dem „Werfen des ersten Steins“, wie es schon in der Bibel warnend heißt. Halten wir die zu werfenden „Steine“ zurück und bauen wir lieber Heimstätten des Friedens mit ihnen. Bauen wir unermüdlich daran weiter im Wissen um die Schwächen und Unzulänglichkeiten der menschlichen Natur, aber in der Hoffnung und im Glauben daran, dass sie escapable sind, und dass unsere Spezies noch ein schönes Stück über sie hinauswachsen kann. Wenn wir unsere Energien in gegenseitigen Feindschaften vergeuden, wird dies nicht gelingen. Aber gemeinsam – im Bewusstsein, Mitglied einer Menschheit zu sein, könnten wir es schaffen. Dabei kommt es auf jedes einzelne Mitglied der Menschengemeinschaft an.
In diesem Sinne wünsche ich allen Leserinnen und Lesern die Kraft zu hervorragenden „Antworten“ auf die ernsten „Fragen“, die das Leben gerade stellt, und eine große Freude darüber, wenn solche glücken.
Elisabeth Lukas, im August 2024
Mensch bleiben im Krieg
1942 geboren, bin ich ein Kriegskind und im zerbombten Wien aufgewachsen. Aus meinen frühen Erinnerungen kenne ich den Hunger, die ständigen Stromausfälle oder das Frieren in den dünnen Mänteln im Winter.
Wie können wir verschiedenen Menschen in dieser Krise des Krieges helfen?
Die meisten Menschen geraten unwissentlich hinein in den Krieg. Wir müssen bedenken, dass wir nicht nur in einem Boot sitzen, sondern in einer Arche, zusammen mit folgenden verschiedenen Gruppen von Menschen
“Für einen Weltkongress der Kämpfer für den Frieden” – Wien im März 1949
Ein Text zur Friedensinitiative von Viktor Frankl, hier erstmalig gezeigt mit großzügiger Erlaubnis der Familie Frankl.
Zum Krieg
Ein Text über den Krieg von Viktor Frankl, hier erstmalig gezeigt mit großzügiger Erlaubnis der Familie Frankl.
“Frieden unter uns” – Wien im Juli 1946
Viktor Frankl schrieb 1946 in einem Artikel für die Zeitschrift DER TURM, den wir mit großzügiger Erlaubnis der Familie Frankl hier zeigen.
Und Frankl hatte doch recht
Die aktuelle Forschung des japanischen Biochemikers Katsuhito Fukuda bestätigt Frankls sorgfältige Differentialdiagnose bei den verschiedenen Formen von Depression. (2022)
Frankls Friedensappell
Elisabeth Lukas zu Frankls Friedensappell. Der Text wurde uns am 17. 5. 2022 zur Veröffentlichung gegeben.
Zu Frankls Liebesbegriff – ein Briefwechsel
Elisabeth Lukas antwortet 2014 auf Fragen zum Liebesbegriff von Viktor E. Frankl
Existenz ist nicht analysierbar Wie kam es zu dem Begriffspaar „Logotherapie und Existenzanalyse“? Warum lassen wir im Elisabeth-Lukas-Archiv den Begriff „Existenzanalyse“ weg und sprechen nur von Logotherapie? (2021)
Existenz ist nicht analysierbar
Existenz ist nicht analysierbar Wie kam es zu dem Begriffspaar „Logotherapie und Existenzanalyse“? Warum lassen wir im Elisabeth-Lukas-Archiv den Begriff „Existenzanalyse“ weg und sprechen nur von Logotherapie? (2021)
Unsere Gesellschaft im Ausnahmezustand
“Unsere Gesellschaft im Ausnahmezustand”. Elisabeth Lukas schreibt 2020 anlässlich der Corona-Pandemie einen Text, im dem sie uns im Sinne Frankls mahnt, nicht die Fragenden, sondern die Antwortenden zu sein – auf Fragen, die uns diese Pandemie stellt, wie wir dieser Gefahr für alle Menschen sinnvoll und damit verantwortlich begegnen.
115 Jahre – und kein bisschen alt
115. Geburtstag von Viktor E. Frankl Im März 2020 gedenken zahlreiche Forscher, Wissenschaftler, Psychotherapeuten, Interessenten und Freunde der Logotherapie aus aller Welt des 115. Geburtstags von Viktor E. Frankl.
Homo patiens
Elisabeth Lukas schreibt 2018 zu Frankls Erfahrungen in den Konzentrationslagern und zum Leiden aller Menschen überhaupt: Das Wissen um die Sinnhaftigkeit unserer Aufgaben hilft uns, Leidensfähigkeit zu entwickeln.
Zentrale Themen der Logotherapie
In einer Zusammenfassung können Sie die Essenz eines Interviews am 04. 04. 2018 mit Herrn Prof. Dr. Bernd Ahrendt lesen, das auch in voller Länge (93 Minuten) als Audiodatei gehört oder runtergeladen werden kann.
Ist Frankls sinnzentrierte Psychotherapie heute noch aktuell?
Ein Text, den Elisabeth Lukas anlässlich des 20. Todestages von Viktor E. Frankl am 2. September 2017 verfasste, dürfen wir seit dem 27.11.2017 hier veröffentlichen.
Ein Gesundheitsnotstand im Land der 1000 Möglichkeiten?
Ein Gesundheitsnotstand im Land der 1000 Möglichkeiten?
Hier nimmt Elisabeth Lukas Stellung zur aktuellen Drogenproblematik in den USA. Auch für diesen Text haben wir von ihr die Erlaubnis zur Veröffentlichung seit dem 27.11.2017 bekommen.
Pax und Logos
Am 28. und 29. März 2015 fand in Dachau eine Gedenkveranstaltung zu Frankls Befreiung aus dem Außenlager des KZs Dachau in Untertürkheim vor 70 Jahren statt. Den ersten großen Vortrag dort hielt Elisabeth Lukas den Vortrag: “PAX UND LOGOS” – Frieden und Versöhnung aus logotherapeutischer Sicht
Ein „update“ für die Logotherapie?
Ihr Text “Ein Update für die Logotherapie”, den wir hier seit Juni 2014 als Download präsentieren, fand auch Aufnahme in die 4., neueste Auflage des “Lehrbuch der Logotherapie”, die seit September 2014 erhältlich ist.