Elisabeth Lukas & Bernd Ahrendt

Zentrale Themen der Logotherapie

Zentrale Themen der Logotherapie

Ein Interview zur Quintessenz der Logotherapie

Zentrale Themen der Logotherapie

Prof. Dr. Elisabeth Lukas im Gespräch am 04. 04. 2018 mit Herrn Prof. Dr. Bernd Ahrendt. Das ausführliche Gespräch kann auch in voller Länge (93 Minuten) im Bereich Interview angehört werden.

Frau Prof. Dr. Lukas, können Sie in kurzen Zügen die Quintessenz der Logotherapie darlegen?
Viktor E. Frankl, Jahrgang 1905, hat als junger Arzt seine Forschungen mit zwei Grundfragen gestartet, die ihn als angehender Psychiater beschäftigt haben. Die erste Grundfrage lautete: „Was macht den Menschen zum Menschen? Gibt es überhaupt etwas spezifisch Humanes?“ Die zweite lautete: „Was erhält den Menschen seelisch gesund bzw. lässt ihn im Krankheitsfall wieder gesunden?“ Insbesondere die 2. Frage war zu Frankls Zeit innovativ. Denn alle damaligen Koryphäen der Seelenheilkunde fragten ausschließlich nach den Ursachen einer Krankwerdung und nicht nach Gründen einer Gesundwerdung.

In Beantwortung seiner ersten Frage kam Frankl der „Geistigkeit“ des Menschen auf die Spur, die er als die „dritte“ Dimension des Menschseins definierte. Man muss bedenken, dass damals in Anlehnung an die gängige Philosophie, nur von „Leib“ (= erste Dimension) und „Seele“ (= zweite Dimension) die Rede war, und dass in der aufkeimenden Wissenschaftsdisziplin der Psychologie der althergebrachte Seelenbegriff einfach mit „Psyche“ übersetzt wurde. Unter Psyche wurden dann unsere Kognitionen und Emotionen subsumiert. Damit war jedoch alles spezifisch Humane ausgeblendet, denn Gefühl und Verstand gibt es ja (bis zu einem gewissen Grad) auch bei den Tieren. Will man Urmenschliches erheben, muss man schon in jene geistige Dimension vorstoßen, in der Frankl Phänomene wie unsere (potentielle) Willensfreiheit und Verantwortlichkeit, unser ethisches und künstlerisches Gespür, oder unsere Suche nach Sinn und Sehnsucht nach einem Letztsinn (Gott?) lokalisiert hat. Diese Phänomene übersteigen den tierischen Horizont, wie auch – in moderner Betrachtung – den Horizont intelligenter Computer und Roboter.

In Beantwortung seiner zweiten Frage entdeckte Frankl die immense Bedeutung der Sinnperspektive für die (leib-)seelische Stabilität des Menschen. Gerade wenn es ernst wird im Leben, ist es ganz entscheidend, ob noch ein Sinn im Weiterleben gesehen wird oder nicht. Aber auch ein Wohlstandsleben verliert an Behaglichkeit, wenn es sinnentleert ist. In Zusammenschau dieser bahnbrechenden Erkenntnisse gründete Frankl seine „sinnzentrierte Psychotherapie“ genannt „Logotherapie“. Sie versteht sich als eine „Psychotherapie vom Geistigen her und auf Geistiges hin“.

Was hat Frankl auf seinem Forschungsweg bestätigt?
In den 1930erjahren des letzten Jahrhunderts hat Frankl am psychiatrischen Krankenhaus „Am Steinhof“ in Wien gearbeitet. Dort hatte er die Gelegenheit, mit Hunderten von sehr kranken und schwer depressiven Personen zu sprechen. U. a. erfuhr er von ihren Kindheitsnöten von ihren Enttäuschungen und seelischen Verletzungen. Da hatte er die Idee, eine Kontrolluntersuchung durchzuführen, indem er zahlreiche gesunde Personen (Ärzte, Krankenschwestern, Studenten …) interviewte, und siehe da: Bei diesen seelisch „normalen“ und unauffälligen Leuten, die ihren Berufen nachgingen und ihren Alltag tadellos meisterten, fand er ähnlich viele Traumata, Enttäuschungen und Verletzungen in deren Vorgeschichten, wie bei seinen Patienten. Daraufhin ließ Frankl die alte Trauma-Theorie von Sigmund Freud fallen. Er erkannte, dass es zwar pathogene, also krankmachende Faktoren im Leben gibt, dass es aber parallel dazu auch protektive, also schützende Faktoren gibt. Und dass, wenn genügend Schutzfaktoren vorhanden sind, die krankmachenden Faktoren an Gefährlichkeit einbüßen. Heute ist diese These unumstritten. Längst weiß man aus der Allgemeinmedizin, dass z. B. Infektionen sich hauptsächlich dann auswirken, wenn das Immunsystem einer Person geschwächt ist, bzw. umgekehrt wenig Schaden stiften, wenn die Krankheitsabwehr des Organismus gut entwickelt ist. Im seelischen Bereich zählt nun die innere Sinnerfüllung eines Menschen zu den stärksten protektiven Faktoren. Daraus folgerte Frankl, dass jede Förderung von Sinnfindung und Sinnerfüllung zum seelischen Genesungsprozess beiträgt. Dass dies tatsächlich funktioniert, hat er an Hand seiner reichhaltig dokumentierten Kasuistik nachgewiesen.

Eines möchte ich dazu noch ergänzen: Die aktuelle Resilienzforschung hat Frankls Erkenntnisse 100prozentig bestätigt. Alle jene „Stehaufmännchen“ und „Stehaufweibchen“, die sich nach einem gravierenden Schicksalsschlag, der sie niedergeworfen hat, wieder aufrichten können, tun dies angesichts einer Sinnperspektive, die sie bejahen. Sie schauen nicht vorrangig auf ihr erlittenes Leid zurück, sondern verweilen in der Gegenwart, die sie unter Einbeziehung von wertorientierten Zukunftsvisionen bestmöglich gestalten. Auf diese Weise erretten sie sich selbst aus dem Pesthauch ihres Traumas (fast wie sich Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen hat).

Aber wieso bleiben dann so viele Menschen in ihrer als negativ empfundenen Vergangenheit so stecken?
Dafür gibt es mehrere Erklärungen. Klagen ist leichter als etwas zu verbessern, beschuldigen ist leichter als Eigeninitiativen zu setzen, usf. Auch ist die herkömmliche psychoanalytische Denkrichtung nicht ganz unschuldig an dem unfruchtbaren Rückschau-Trend. Sie hat das „Wühlen“ in der Vergangenheit propagiert. Aber ich möchte es ihr nicht vorwerfen, denn die Psychotherapie ist eine extrem junge Fachrichtung, gerade erst rund 120 Jahre alt. Jede Evolution verläuft über die Versuch-Irrtum-Schiene, und so war es auch hier. Man hat ein therapeutisches Hilfskonstrukt nach dem anderen entwickelt, stets dazulernend, wo man korrigieren musste. Auch Frankl war ein wichtiger „Korrekteur“. Inzwischen ist die psychoanalytische „Illusion“, dass mit dem Aufdecken einer seelischen Krankheitsursache die Krankheit weichen würde, dahingeschmolzen. Die aufdeckenden Strategien haben sich nicht bewährt, abgesehen davon, dass sie meistens mit zuviel unbewiesener Spekulation behaftet sind.

Hat das unter Umständen auch damit zu tun, dass es häufig nicht nur eine Ursache gibt, die zu einer seelischen Erkrankung führt bzw. führen kann?
Im Laufe der Fortschritte, die die Neurobiologie und Psychologie seit Freuds Zeiten gemacht haben, hat sich gezeigt, dass die Krankheitsursachen enorm vernetzt sind. Die Gentechnologie hat uns die Augen dafür geöffnet, dass mehr seelische Dispositionen auf die Veranlagung zurückgehen, als man früher geahnt hat. Man erbt nicht bloß blonde Haare oder blaue Augen, sondern auch Charakterneigungen wie Suchtneigungen, hysterische oder Depressionsneigungen. Das heißt nicht, dass man eine entsprechende Krankheit ausbrüten müsste, sondern nur, dass man – bei gewissen Veranlagungen – vorsichtig sein soll. Diese endogenen Dispositionen mischen sich dann mit exogenen Einflüssen, aber keineswegs nur seitens der Eltern und Erzieher. Die Medien mixen kräftig mit, und die gesellschaftlichen Strömungen sind auch nicht zu unterschätzen.

Aber all das ist noch immer nicht das Essentielle. Denn zu dem gesamten Mischmasch tritt das Selbstgestaltungspotential des Menschen dazu und verleiht ihm seine jeweilige Endausprägung. Auch Kinder sind schon eigene kleine Persönlichkeiten und treffen ihre eigenen individuellen Wahlen. Obwohl die geistige Dimension bei den kleinen Menschlein teilweise noch „schläft“ bzw. nicht ausgereift ist, blitzt sie dennoch durch das Psychophysikum hindurch und bestimmt mit, was aus einem Menschlein wird. Kinder sind keinesfalls „Erziehungsprodukte“ ihrer Eltern. Und Erwachsene sind auch keine puren Opfer ihrer vergangenen Umstände.

Das würde bedeuten, dass jeder einen deutlichen Einfluss auf sein Leben hat. Bereits als Kind, aber eben auch als erwachsener Mensch…
Ja. Es ist (nach einem berühmten Gleichnis von Frankl) wie bei einem Baumeister. Die genetischen Anlagen und die diversen Umwelteinflüsse bilden gleichsam das Baumaterial, das einem Menschen zur Verfügung steht. Leider ist dieses Baumaterial nicht gerecht verteilt. Manche Erdenbürger erhalten ein fantastisches Baumaterial: sie haben liebevolle Eltern, einen gesunden Körper, leben in einem friedlichen Land …Andere Erdenbürger finden minderwertiges Baumaterial vor: ein asoziales Milieu, Armut oder Kriegswirren. Jetzt aber tritt die „dritte“ Dimension hinzu: der Baumeister verwendet sein Material in personaler Komposition. Und sehen Sie: Mancher Baumeister, der die wunderbarsten Marmorblöcke bekommen hat (z. B. ein grandioses musikalisches Talent oder ein prachtvolles Vorbild der Nächstenliebe), lässt die Blöcke unbearbeitet liegen und vergammeln. Manch anderer Baumeister, dem nur unscheinbare bröckelige Sandsteine zugeteilt worden sind (z. B. ein niedriges Geburtsgewicht, keine schulische Förderung etc.), baut daraus ein heimeliges Häuschen oder eine hübsche Kapelle am Wegrand. „Der Mensch ist das Wesen, das immer entscheidet“, hat Frankl gesagt. „Und was entscheidet es? Was es im nächsten Augenblick sein wird.“

Sie haben vom Begriff des Sinns berichtet, der in Frankls Konzepten einen großen Platz einnimmt. Können Sie diesen Begriff noch genauer erläutern?
Zunächst möchte ich die Begriffe „Sinn“ und „Werte“ differenzieren. Werte sind „Sinn-Universalien“. Der Sinn ist hingegen „unikal“. Das bedeutet, dass der „Sinn des Augenblicks“, wie Frankl ihn nennt, ausnahmslos in Bezug zu einer bestimmten Person in einer bestimmten Lebenssituation steht. Er ist das Optimale (für alle Beteiligten), das diese eine Person aus dieser einen Situation machen kann. Wozu sie sozusagen „gerufen“ ist. Um es an uns beiden, Herr Professor, zu exemplifizieren: Für mich ist es der „Sinn des Augenblicks“, Ihre Fragen so gut zu beantworten, wie ich kann. Würde ich zum Beispiel sagen: „Verehrter Herr Professor, heute ich draußen ein freundliches Wetter, deswegen halte ich es für sinnvoll, jetzt einen Spaziergang zu machen“, dann würden Sie antworten: „Nein, nein, Frau Lukas, das ist jetzt nicht sinnvoll. Ich bin von weit her angereist, um mit Ihnen einen Dialog zu führen. Sie haben mir dafür Ihre Zusage gegeben. Daher ist es jetzt sinnvoll, dass Sie hier sitzen bleiben und weiter mit mir plaudern!“ Das Beispiel demonstriert: Ein fröhlicher Spaziergang bei freundlichem Wetter hat durchaus einen Wert. Nur – dieser Wert ist bei mir momentan nicht „dran“. Er ist nicht an der Reihe, realisiert zu werden. Später am Nachmittag jedoch, wenn wir uns verabschiedet haben, kann es sehr sinnvoll sein, dass ich nicht sitzen bleibe, sondern mich vor dem Schlafengehen noch etwas bewege.

Genauso ist der „Sinn des Augenblicks“ von Person zu Person verschieden. Wenn Sie mich später verlassen werden, wird etwas anderes auf Sie warten als auf mich. Im Fazit: Der Sinn ist ein immerwährender und ein immer anderer. Solange wir bei Bewusstsein sind, gibt es eine Sinnmöglichkeit für uns, egal, wie unsere Situation beschaffen sein mag. Menschen, die ein reiches Wertsystem haben, also viele Werte in ihrem Leben kennen, tun sich natürlich leichter, den jeweiligen „Sinn des Augenblicks“ zu entdecken, denn irgendein Wert ist ständig „dran“. Allerdings müssen sie aufpassen, dass sie die übrigen Werte in der Warteschleife halten und sich von diesen nicht unter Druck setzen lassen. Und dass sie bei aller Fülle nicht vergessen, dass auch die eigene Erholung und Rekreation ein hoher Wert ist.

Wie ist das eigentlich mit den drei Wertkategorien, die Frankl entwickelt hat?
Frankl sprach von „drei Hauptstraßen der Sinnfindung“, den schöpferischen Werten, den Erlebniswerten und den Einstellungswerten. Wobei die schöpferischen Werte und die Erlebniswerte praktisch jedermann geläufig sind. Sie bilden eine Brücke zwischen Mensch und Welt. Schöpferisch schafft man etwas Neues in die Welt hinein. Zum Beispiel strickt eine Frau einen Pullover. Sie schenkt ihn „der Welt“ und freut sich, wenn er dem Empfänger gut passt. Bei den Erlebniswerten geht umgekehrt etwas Beglückendes von der Welt aus; wir werden quasi von „der Welt“ beschenkt. Allerdings gilt dabei die Voraussetzung, dass wir uns innerlich für dieses Geschenk öffnen und seinen Wert zu schätzen wissen. Das Wandern durch die freie Natur ist zum Beispiel nur für denjenigen ein wertvolles Erlebnis, der eine Antenne für die Schönheit der Natur hat. Wer stöhnend und jammern dahinstapft und nichts von den Blüten und Fluren ringsum wahrnimmt, der bringt sich selbst um den Erlebniswert.

Kommen wir zu den Einstellungswerten. Für Frankl waren sie die höchstmöglichen Werte, die ein Mensch verwirklichen kann, weil sie die am schwierigsten zu verwirklichenden sind. Sie haben nicht mit Freude zu tun (wie die schöpferischen oder die Erlebniswerte), sondern mit Schmerz, denn sie stellen sich dann zur Wahl, wenn ein Unglück geschehen ist, Hoffnungen verloren worden sind oder Menschen an unüberwindliche Grenzen gelangen. Kann in solchen Fällen noch eine Aktion unternommen werden, um die missliche Lage zu verbessern, so hat diese Aktion (im Sinne von schöpferischen Werten) selbstverständlich den Vorrang; sie hat die Priorität. Hat etwa jemand seinen Arbeitsplatz verloren, ist es gewiss sinnvoll, sich um einen neuen zu kümmern. Kann jedoch nichts mehr unternommen werden, um das Unglück zu eliminieren, ist man also mit einem unabänderlichen Leiden konfrontiert, etwa dem Verlust eines geliebten Menschen, dann kommt es darauf an, wie man dieses Leiden trägt und erträgt. Immer noch kann man sich auf unterschiedliche Weise dazu einstellen. Man kann seine Wut und seinen Hader mit dem Schicksal wild hinausbrüllen, man kann in dumpfer Verzweiflung versinken … man kann sich aber auch zu einer heroischen Akzeptanz durchringen und damit eine wertvolle Einstellung (= einen Einstellungswert) verwirklichen. Sie hat die Superiorität. Wenn sich jemand z. B. denkt: „Ich habe viel Gutes im Leben empfangen. Ich habe jahrelang das Geleit der geliebten Person genossen, dafür will ich dankbar sein, auch wenn ich jetzt allein bin. Die Liebe stirbt nicht mit dem Tod, sie bleibt in meinem Herzen lebendig …“ u. ä., so ist das bei aller Trauer eine großartige Einstellung.

Die Bedeutung der Einstellungswerte scheint insbesondere in folgendem Kontext auf. Einem biologischen Gesetz zufolge erzeugen Frustrationen automatisch Aggressionen. Auf psychophysisch-animalischer Ebene ist eine Aggression nämlich nichts anderes als ein Kräftezufluss. Wird z. B. ein Tier von einem anderen Tier gejagt, ist das in biologischem Terminus eine Frustration, auf die hin das Tier „aggressiv wird“, also durch Hormonausschüttungen die Kraft erhält, um sein Überleben zu kämpfen oder zu flüchten. Beim Menschen sind Frustrationen gewöhnlich „seelische Bedrängungen“, die ihn ebenfalls „aggressiv machen“, aber im Unterschied zu den Tieren kann er wählen, wofür er seinen biologischen Kräftezufluss verwendet. Auch er kann kämpfen, flüchten, sogar sich selbst schädigen (was Tiere nicht tun), oder die gewonnene Kraft verwandeln in eine noble Einstellung – dort, wo Kämpfen oder Flüchten sinnlos wäre.

Aber man spürt doch diese Wut, diesen immensen Zorn in sich …
Ja, das ist richtig. Deshalb lassen sich viele Menschen verleiten, ihre Wut „irgendwohin“ zu leiten, an „irgendjemandem“ auszulassen. Sie machen es wie der Tiger im Zirkus, der, wenn er Zahnweh hat, den Dompteur angreift. Den Dompteur, der am Zahnweh des Tigers unschuldig ist! Fachlich nennt man das eine „Übertragung“ (der Aggression an den falschen Adressaten). Nur ist der Mensch eben mehr als ein Tiger, weshalb Übertragungen in unserer menschlichen Gesellschaft unethisch sind. Wenn sich ein Mann über seinen Chef ärgert, abends heimkommt, den Hund tritt und seine Frau anschreit, also seinen Ärger an Unbeteiligten und Unschuldigen abreagiert, hilft ihm das wenig. Er vermehrt nur das Leid in der Welt, und sein Problem ist damit nicht gelöst. Da ist es wesentlich besser, entweder den Konflikt mit dem Chef konstruktiv anzugehen (= schöpferische Werte zu verwirklichen), z. B. durch klärende Aussprachen, berufliche Umorientierung etc., oder – wenn gar keine Alternative möglich sein sollte – sich positiv zu der Situation einzustellen, indem der Mann sich z. B. sagt, dass er schließlich einen Arbeitsplatz hat, was super ist, dass er seine Familie ernähren kann und auch noch lernen wird, die Eskapaden seines Chefs seelisch souverän an sich abgleiten zu lassen ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Das wäre eine beachtliche Einstellung, die er entwickeln könnte.

Da verlangen Sie doch ganz schön viel vom Menschen: Zum einen Selbstreflexion, um die Situation zu erkennen, und zum anderen das Aushalten von Leid…
Nicht ich verlange das, sondern „der Logos“ verlangt das. Es ist die einzig sinnvolle Art, mit Schmerz und Kummer umzugehen; alles andere potenziert Schmerzen und Kummer, und das brauchen wir in unserer Menschenfamilie am allerwenigsten.

Ich möchte dem etwas hinzufügen: Die wahren Helden sind nicht diejenigen, die auf steinernen Denkmälern prunken, weil sie Länder erobert und Schlachten geschlagen haben, sondern die eigentlichen Helden sind oft ganz einfache Leute. Sie sind verbreiteter, als Sie, Herr Professor, sich das vorstellen. Zahllose Menschen haben genug Herzensbildung, um die Kette des Leides abreißen zu lassen, wenn es nötig ist; man muss sie nur erkennen und ihre Leistungen würdigen. Nehmen wir an, eine Frau liegt im Krankenhaus und kann des Nachts nicht schlafen, weil ein Wundschmerz sie quält. Morgens kommt die Krankenschwester in ihr Zimmer, und die Frau wünscht ihr lächelnd einen guten Morgen. Was ist da passiert? Die kranke Frau hat eine fürchterliche Nacht hinter sich, aber sie schwingt sich zu einem freundlichen Gruß auf. Sie hat Schlechtes empfangen und gibt Gutes weiter. Das ist Heldentum! Und das liegt der Potenz nach in jedem Menschen, nicht nur das Böse, das sich perpetuiert. Es ist nicht unmöglich, erfahrenes Schlimmes mit ausgeteiltem Liebevollem zu beantworten – und genau darum bittet uns „der Logos“.

Gibt es demnach etwas Größeres, das uns immer dazu aufruft? Aufruft, gelingend in die Welt zu wirken?
Es ist egal, wie Sie jenes geheimnisvolle „Größere“ benennen, Fakt ist, dass der Mensch nicht der Macher von allem ist. Wir sind nicht der „Macher“ von Sinn. Wir können Sinn nur demütig suchen, finden, ihn verwerfen oder ihm folgen, nicht aber seine inhaltliche Botschaft nach unseren Wünschen „verdrehen“. Frankl meinte dazu lakonisch, dass es nicht darauf ankommt, was wir vom Leben zu erwarten haben, sondern darauf, was das Leben von uns erwartet. Meistens fühlen wir, was es von uns erwartet wird. Wenn Sie auf der Straße gehen und ein alter Mann stürzt vor Ihnen auf den Gehsteig, dann fühlen Sie in Ihrem Innersten, was das Leben jetzt von Ihnen erwartet. Freilich können Sie gleichgültig an dem Gestürzten vorübergehen. Der Sinn zwingt Sie zu nichts. Aber er bittet Sie klar vernehmlich, inne zu halten und dem Gestürzten aufzuhelfen …

Sind das nicht meine moralischen Vorstellungen, die ich mitbekommen habe?
Auch, aber nicht allein. Sie haben nicht nur durch Ihre Erziehung allerhand Wegweisung mitbekommen, sondern auch qua Menschsein. Sie tragen ein „Sinn-Organ“ (= Gewissen) in sich. Es gibt genug Studien, die belegen, dass Menschen die alten Weisungen aus ihrer Kinderstube mit Nonchalance über Bord werfen können. Personen, die mit engen moralischen Ansichten aufgewachsen sind, brechen daraus aus und schwelgen in verbotenem Amüsement. Andere strampeln sich bravourös aus einem kriminellen häuslichen Milieu heraus. Wie bereits dargelegt, ist der „Baumeister“ (= die geistige Person) ununterbrochen am Werken, egal, welches „Baumaterial“ ihr zu Füssen liegt.

Menschsein heißt, eine Instanz in sich zu haben, die den Ruf des „Logos“ vernimmt. Menschsein heißt aber auch, die Entscheidungsmacht zu besitzen, diesen Ruf zu ignorieren oder ihm zum Leitmotiv zu erkören.

Aber wo lernt man das denn? Wo lerne ich, diese Mächtigkeit zu spüren und weiß, wozu ich in einer Situation aufgefordert bin? Was ist das Sinnvolle, das ich tun soll? Das unter Umständen nicht mich in den Mittelpunkt setzt…
Sie haben recht, aus Warte des Sinns bildet das Ich nicht den Mittelpunkt geistiger Erwägungen. Dennoch ist die Spaltung zwischen Egoismus und Altruismus eher eine illusorische. Wenn man sich für andere Menschen engagieren will, muss man sich selbst fit erhalten. Wer sich krass überarbeitet und dabei selbst schindet, handelt nicht sinnvoll – auch nicht, wenn er sich im Dienst an anderen abrackert. Sein „Dienen“ verliert kontinuierlich an Qualität, und er selbst verliert an Kompetenz. Das umgekehrte Übel kennen wir ebenfalls. Wer nur an sich selbst und seinem eigenen Wohlergehen in¬teressiert ist, rutscht in einen existentiellen Leerlauf hinein, der ihn die Lebensfreude kostet. Bald ödet ihn alles an, weil er für nichts und für niemanden mehr „gut“ ist. Der Sinn ist exakt der Wächter des ausgewogenen Maßes zwischen dem Dasein für etwas / für jemanden, und dem pfleglichen Aufpolieren des eigenen Daseins, um es „zum Glänzen zu bringen“. Sinn ist immer Sinn für alle, die in einer gemeinsamen Lebenskonstellation miteinander verbunden sind.

Das bedeutet doch, dass man feinfühlig genug sein muss, um diesen jeweiligen Sinn zu erkennen, was aber gelegentlich dazu führen könnte, dass man zu einem fremden Wunsch „nein“ sagt und sogar nach außen hin hart erscheint.
Haben Sie Vertrauen, Herr Professor! Wir Menschen sind mit einer profunden Sinn- und Wertefühligkeit ausgestattet. Unser massives Problem ist nicht, das Richtige zu fühlen, sondern das Richtige umzusetzen.

Aber wo bekommt man das Vertrauen her? Und was macht derjenige, der kein Urvertrauen durch seine Eltern mitbekommen hat?
Stopp! Wer sagt, dass die Eltern das Urvertrauen ihrer Kinder erzeugen? Freilich ist es wichtig und von nachhaltiger Relevanz, dass Eltern ihren Kindern ein „Nest der Geborgenheit“ bereiten. Es ist keine Frage, dass diejenigen Erwachsenen, die viel „Nestwärme“ erfahren haben, leichter Vertrauen zu ihren Mitmenschen fassen können als andere, die elterliche Zuwendungen haben entbehren müssen. Dennoch ist das Urvertrauen ein spezifisch humanes Phänomen, das zum Wesen des Menschen unabdingbar dazugehört. Es kann durch schlechte Erfahrungen verschüttet aber niemals völlig ausgelöscht werden. Ein Funke glimmt weiter … und daher kann das Urvertrauen auch wieder reaktiviert werden, sei es mit therapeutischer Hilfe oder in Eigenregie.

Doch wenn ich jemanden treffe, der zu mir sagt, dass er kein Urvertrauen hat…
Dann irrt er sich. Oder er gebraucht seine Behauptung als Ausrede. Vor Gericht wird z. B. gerne damit argumentiert, dass Straftaten auf frühkindliche Verwahrlosung zurückzuführen sind. Man kann das als „mildernden Umstand“ gelten lassen, aber nur unter Vorbehalt. Kein Mensch ist ein zu programmierender Apparat. Freiheit und Urvertrauen, Gewissen und Selbstverantwortlichkeit sind unveräußerliche Güter, die uns „mit dem Geist eingehaucht“ sind, um es biblisch auszudrücken. Das befähigt uns, vor schlechten Startbedingungen nicht kapitulieren zu müssen. Die Statistik untermauert diese These mehr, als sie sie widerlegt. Ja, es häufen sich die menschlichen Entgleisungen bei tragischen Vorgeschichten. Aber auch ja: Ein erstaunlicher Prozentsatz vernachlässigter, misshandelter, sogar ausgebeuteter Personen hat schon mit Hilfe der „Trotzmacht des Geistes“ das Ruder herumgerissen und sich zu aufrechten und anständigen Menschen entfaltet.

Zurück zum Urvertrauen: Es wird heute mehr denn je durch etwas ganz anderes gedämpft, nämlich durch Zerstreuung und Lärm. Die moderne Generation ist ständig visuellen und akustischen Reizen ausgesetzt und kommt kaum mehr zur Be-sinn-ung. Wer sich pausenlos per Multitasking und Bildschirmstarren ablenkt, kann die leise Stimme seines innersten Sinngespürs nicht wahrnehmen. Um nicht den Kontakt mit ihr zu verlieren, sollte man sich deshalb regelmäßig in die Stille zurückziehen, und sei es bloß 10 bis 15 Minuten täglich an einem Ort, an dem man nicht gestört wird. Das ist ungemein fruchtbar.

Gewinnt man dadurch das Urvertrauen zurück?
Zumindest gelangen wir zu tieferen Einsichten. Es ist ja nicht so, dass uns das Urvertrauen suggeriert, dass immer alles gut ausgehen wird. Wovon es erzählt, ist, dass alles einen verborgenen Sinn haben mag, wie immer es ausgeht, und ob wir diesen verstehen oder nicht. Dass es eine letzte „Stimmigkeit“ gibt, die wir nicht erfassen können und nicht zu erfassen brauchen, die alle unsere Sorgen und Leiden, selbst Schuld und Tod noch mit umfasst. Der Mensch muss an etwas glauben, ob er es will oder nicht. Selbst überzeugte Atheisten glauben daran, dass es höhere Zusammenhänge gibt, die das menschliche Vorstellungsvermögen sprengen, also Grenzen des menschlichen Wissens überschreiten. Wer jedoch eine Grenze anerkennt, kennt zugleich ein Jenseits der Grenze an (sonst wäre sie ja keine Grenze). Indirekt beugt er sich vor diesem Jenseits, auch wenn er keine Worte oder Bilder dafür hat.

Auf welche Weise kann man das Urvertrauen wieder zurückgewinnen?
Das ist eine interessante Frage, weil wir analoge Prozesse aus der psychotherapeutischen Praxis kennen. Wiederholt müssen für zu erzielende Gewinne Vorschüsse geleistet werden. Wir haben das bei der Erläuterung der Erlebniswerte bereits angedacht: Man muss sich zunächst einem Wert innerlich öffnen, um ihn später als Wert erleben zu können. Ein markanteres Beispiel sind die Angststörungen. Man muss sich zunächst (noch vor Angst bebend!) an den imaginierten Angstinhalt ausliefern (bei Flugangst etwa ein Flugzeug besteigen), um später weniger angstbesetzt durchs Leben wandeln zu können. Bei Süchten ist es dasselbe Rezept. Man muss sich zunächst (noch völlig abhängig) so verhalten, als wäre man bereits „clean“ (eben die Abstinenz auf sich nehmen), um später suchtfrei zu sein. Selbst bei zwischenmenschlichen Streitigkeiten sind solche „finalen Vorleistungen“, wie sie logotherapeutisch genannt werden, der einzige Weg zum Frieden. Man muss zunächst dem Feind die Hand hinstrecken, um ihn später zum Freund zu haben. Das ist alles sehr verkürzt dargestellt, doch das Prinzip ist eindeutig: ohne Vorschüsse an Mut, Durchhaltevermögen, Humor, Grandezza … ist kein Gewinn zu erhaschen. Für die Rückgewinnung des Urvertrauens gilt dasselbe Prinzip: jeder authentische Vertrauensvorschuss ans Leben wird belohnt.

Sie sagen, neben Mut gehört auch der Humor dazu?
Nehmen wir uns nochmals die Angststörungen vor. Angenommen, jemand hat eine extreme Angst vor Hunden, eine Hundephobie. Sieht er bloß aus der Ferne einen Hund, macht er sogleich kehrt oder schlägt Umwege ein. Das ist eine Indikation für eine zu erbringende Vorleistung, die man dem Betreffenden mittels Humor erleichtern kann. Man geht mit ihm (vielleicht zum ersten Mal) an einem kleinen Dackel vorüber, mit dem er (paradox) drauflos schäkern soll: „Los, Maul auf, zeig deine Zähnchen! Schau, so knusprige Waden wie meine kriegst du nicht alle Tage, also lass sie dir gut schmecken …!“ Vermutlich wird der Dackel unbeeindruckt vorbeilaufen. „Ach, was bist du für ein Feigling!“ soll der Betreffende ihm noch nachflüstern, nicht das kleinste Zuschnappen hast du zustande gebracht …“. Auf diese humorige Weise wird sich der Betreffende immer öfter auch an größeren Hundeexemplaren vorübertrauen.

Bei den Streiteskalationen geht es weniger lustig zu, aber Mut braucht es allemal, um sie zu beenden. Angenommen ein Ehepaar hat sich in einem „Teufelskreis“ verstrickt: Der Mann schimpft dauernd, weil seine Frau ihn nicht mag, und seine Frau mag ihn nicht, weil er dauernd schimpft. Wie kann dieser Kreis durchbrochen werden? Jeder begründet sein Fehlverhalten mit dem Fehlverhalten des anderen. Jeder wartet darauf, dass der andere als Erster sein Fehlverhalten einstellt. Da können die beiden lange warten … Es sei denn, einer von ihnen erbringt einen „Vorschuss an Liebe“. Z. B. der Mann hört mit seinem Geschimpfe (obwohl ihn seine Frau ablehnt) radikal auf. Oder die Frau beginnt, den Mann respektvoll und gnädig zu behandeln (obwohl er dauernd schimpft). Damit ändert sich die Situation, denn der „Grund“ des Fehlverhaltens fällt für einen der beiden weg. Warum soll der Mann schimpfen, wenn er eine nette Partnerin hat? Warum soll die Frau ihren Partner ablehnen, wenn er sich kontrolliert benimmt? Der „Teufelskreis“ wird brüchig. Wechseln gar alle zwei zu einem „Vorschuss an Liebe“ über, zerfleddert dieser sofort.

Dazu ist enorm viel Vertrauen – Vertrauen, dass sich etwas ändern wird…
Ja. Wer die Welt verändern will, muss sich verändern. Vertrauen ist nötig, aber auch das Bewusstsein, dass wir frei sind, um Veränderungen voranzutreiben. Und dass jeder einzelne eine wichtige Rolle dabei spielt, welche Veränderungen in Gang kommen, im Positiven oder im Negativen. Freiheit ist hauptsächlich die Freiheit zu verantwortlichem Tun oder Unterlassen, je nachdem.

Das klingt sehr anders als das, was viele Menschen derzeit unter Freiheit verstehen.
Frankl hat uns gelehrt, dass Freiheit nie eine „Freiheit von etwas“ (von unseren Bedingungen) ist, sondern immer nur eine „Freiheit zu etwas, nämlich Stellung zu nehmen zu diesen unseren Bedingungen, und sie kreativ zu gestalten.

Aber was ist das für eine Freiheit, wenn ich mich nicht von etwas (z. B. Unangenehmem) befreien kann?
Erlauben Sie mir, dass ich in wenigen Strichen ein bekanntes Modell aus der Logotherapie skizziere. Wir können jede konkrete Situation einer konkreten Person in zwei Teile aufschlüsseln. Den linken Teil nennen wir ihren „schicksalhaften Bereich“, den rechten Teil nennen wir ihren „persönlichen Freiraum“. Der „schicksalhafte Bereich“ ist dadurch definiert, dass sich alles darin befindet, was diese Person in ihrer gegebenen Lebenssituation nicht (mehr) in ihrer Hand hat. Zugegeben, es ist ein großer Bereich. In ihm liegt die gesamte Vorgeschichte dieser Person vom Moment ihrer Zeugung an bis herauf zur Gegenwart. Nichts davon kann sie mehr abwählen. In ihm liegen ferner ihre physische und psychische Verfasstheit, wie sie gerade ist. Beides kann sie zwar zukünftig ändern, aber nicht im Sekundentakt der Gegenwart. In ihm liegt ferner alles, was außerhalb der Person entschieden wird, sei es von anderen Menschen, sei es vom allwaltenden Schicksal, auf das niemand Zugriff hat. Es ist ein gewaltig großer Bereich.

Ihm gegenüber steht auf der rechten Seite des Modells der „persönliche Freiraum“. Was befindet sich darin? Bei einigem Nachdenken zweierlei: Handlung und Haltung der Person im Hier und Jetzt. Sie kann wählen, was sie tut oder unterlässt. Und sie kann wählen, wie sie sich zu sämtlichen Details aus dem „schicksalhaften Bereich“ (oder auch zu zukünftigen Optionen) innerlich einstellt.

Es gehört zu den genialsten Ideen Frankls, dass er den riesigen linken Schicksalsbereich sozusagen „auf Null geschraubt hat“, indem wir ihn als das Areal betrachten dürfen, in dem wir keine (= null) Wahlmöglichkeiten haben. Wohingegen wir den rechten kleinen Freiheitsraum als unseren jeweiligen „Sternenhimmel an Wahlmöglichkeiten“ betrachten dürfen, aus dem es uns gewährt ist, einen der „Sterne“ herauszupicken und zur Verwirklichung zu bringen. Freilich kann dieser Sternenhimmel eingeschränkt sein. Wenn jemand schwer krank ans Bett gefesselt danieder liegt oder im Gefängnis ist, sind seine Wahlmöglichkeiten reduziert. Trotzdem sind welche vorhanden – bis zu seinem letzten Atemzug.

Vollziehen wir den nächsten Gedankenschritt. Sind diese Sternchen am Sternenhimmel alle gleich wert und würdig, verwirklicht zu werden? Ist es gleich-gültig, was wir uns daraus aussuchen? Mitnichten! Wir haben die dümmsten Wahlmöglichkeiten. Wir können vom Balkon springen, wir können uns die Haare grell gelb und lila färben, etc. Wir haben auch böse Wahlmöglichkeiten, von deren Ergreifung die Zeitungen täglich berichten. Die Kunst des Lebens besteht darin, das Verwirklichungswürdigste unter dem jeweils Möglichen zu orten, zu ergreifen und zu realisieren. In der Diktion unseres Modells: das leuchtendste (= sinnvollste) Sternchen am rechten Sternenhimmel zu entdecken und auf die linke Seite hinüberzuholen, es hineinzuholen in unsere Lebensgeschichte, wo es dann unvergänglich und unantastbar der Wahrheit über uns selbst angehört.

Wir sollten uns im Klaren darüber sein, dass es die Möglichkeiten und nicht ihre Verwirklichungen sind, die vergehen. Abgewählte Sternchen „verglühen“. Springe ich gegenwärtig nicht vom Balkon, verschwindet diese Möglichkeit aus meiner Gegenwart. Sie bleibt unwirksam. Springe ich hingegen, hört diese Möglichkeit auf, eine Möglichkeit zu sein, und wird zu einem Stück (traurige) Wirklichkeit. Sie wandert mit all ihren Folgen in meine Vergangenheit hinein, von wo sie nicht mehr entfernt werden kann. Alles einmal Gewählte „verewigt“ sich.

Logotherapeutisch kann mit diesem Modell hervorragend gearbeitet werden. Patienten suchen Hilfe, weil in ihrem „schicksalhaften Bereich“ etwas Dunkles liegt, das sie nicht bewältigen können. Seien es Traumata, erlebte Tragödien, seien es Ängste, Konflikte, seien es schlechte Gewohnheiten oder depressive Stimmungen. Eine saubere Diagnostik ist auf jeden Fall notwendig. Dann aber lenken wir die Aufmerksamkeit unserer Patienten auf ihren „persönlichen Freiraum“ und lassen sie sich ihres momentanen Sternenhimmels gewahr werden. Lassen sie staunen über die Fülle der Möglichkeiten, die sie trotz und mitten in der herrschenden Dunkelheit haben. Und laden sie ein, sich zu ihrem hellsten Stern vorzutasten – die schönste aller ihrer Möglichkeiten zu entdecken. Logotherapie ist keine aufdeckende, dafür aber eine entdeckende Psychotherapie.

Was es zu entdecken gilt, ist dasjenige Eine im Hier und Jetzt, das Mensch und Welt gut tut. Leider ist es nicht unbedingt das Lustvolle, das Bevorzugte für die Patienten. Manchmal ist es etwas, das ihnen gehörig schwer fällt. Aber 1. ist es immer etwas, das sie verwirklichen können (sonst läge es ja überhaupt nicht in ihrem Freiraum), und 2. ist es immer etwas, das sie verwirklichen sollen, weil es mit ihrem Gewissen konform ist. Entscheiden muss jeder Patient selbst, was er wählt, aber wir können ihm Umsetzungshilfen anbieten, und wir können ihm ehrlich versichern, dass sich die Dunkelheit um ihn lichten wird, wenn er sein Leben anreichert mit „dem Licht verwirklichungswürdiger Sterne“.

Geht es somit im Kern um die Frage, was uns und der Welt in einer bestimmten Situation gut tut?
So könnte man es ausdrücken. Frankl hat den Satz geprägt: „Jede Tat ist ihr eigenes Denkmal“. Das heißt, mit jeder Handlung und jeder Unterlassung, aber auch mit jeder inneren Haltung und Einstellung, meißeln wir an unserem eigenen Denkmal, an unserer Identität. Glücklich sind diejenigen Menschen, die mit sich selbst zufrieden sein können. Und zufrieden sein kann man nur mit einem sinnerfüllten Leben.

Dann haben wir ja eine unglaubliche Verantwortung für unser Leben?!
Für uns und unser Wirken. Frankl hat das auf den Punkt gebracht, als er in seinem Buch „Ärztliche Seelsorge“ schrieb: „Es ist etwas Furchtbares um die Verantwortung des Menschen – doch zugleich etwas Herrliches! Furchtbar ist es: zu wissen, das ich in jedem Augenblick die Verantwortung trage für den nächsten; dass jede Entscheidung, die kleinste wie die größte, eine Entscheidung ist „für alle Ewigkeit“; dass ich in jedem Augenblick eine Möglichkeit, die [beste] Möglichkeit eben des einen Augenblicks, verwirkliche oder verwirke … doch herrlich ist es: zu wissen, dass die Zukunft, meine eigene und mit ihr die Zukunft der Dinge, der Menschen um mich, irgendwie – wenn auch in noch so geringem Maße – abhängig ist von meiner Entscheidung in jedem Augenblick. Was ich durch sie verwirkliche, was ich durch sie „in die Welt schaffe“, das rette ich in die Wirklichkeit hinein und bewahre es so vor der Vergänglichkeit.“

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