Elisabeth Lukas

Unsere Gesellschaft ­im Ausnahmezustand

Unsere Gesellschaft ­im Ausnahmezustand

Anlässlich der Corona-Pandemie ein Text, im dem uns ganz im Sinne Frankls mahnt, nicht die Fragenden, sondern die Antwortenden zu sein

Unsere Gesellschaft ­im Ausnahmezustand

Ein paar Gedanken dazu von Elisabeth Lukas

Die Corona-Pandemie stellt die menschliche Gesellschaft vor unerwartete, alarmierende Herausforderungen. Unsicherheit breitet sich aus, der Boden unter unseren Füssen scheint zu wanken. Gibt es irgendwelche Haltegriffe für die Seele? Ich habe darüber nachgedacht.

Zunächst dies: Hier in Mitteleuropa haben wir rund 70 sehr gute Jahre hinter uns. Jahre ohne gravierende Katastrophen, grassierende Hungersnöte, Kriegswirren, Vertreibungen usw. Also bei allen Schwankungen Jahre des Wohlstandes. Das Bildungsniveau, die Besitztümer und die Lebenserwartung sind bei uns gestiegen. Die gegenwärtige Krise erinnert daran, dafür dankbar zu sein und uns darauf zu besinnen, dass nichts davon selbstverständlich war und ist. Wir wissen das zwar, wenn wir auf andere Länder oder auch auf unsere eigene Geschichte in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts schauen. Aber wir vergessen es gerne – und jetzt sind wir abrupt wachgerüttelt. Faktum ist: Menschliches Leben hängt ständig an einem seidenen Faden, individuell wie kollektiv.

Es wäre nicht falsch, unsere Dankbarkeit sogar auf die Gegenwart auszudehnen. Denn selbst in der misslichen Situation, in der wir gerade stecken, gibt es Lichtblicke und Hoffnungsschimmer. Wir haben verantwortungsbewusste Regierungen, materielle Reserven, funktionierende Gesundheitssysteme, eine blühende Landwirtschaft und einen hohen technischen Standard … die besten Voraussetzungen, dass wir uns in näherer Zukunft wieder erholen können. Tausendmal bessere Voraussetzungen, als sie etwa 1945 vorhanden gewesen sind. Damit möchte ich nichts beschönigen, sondern nur sagen, dass die Realität stets mehrere Seiten aufweist. Es ist z. B. genauso wahr, dass man an der Seuche sterben kann, wie es wahr ist, dass man von der Erkrankung wieder genesen kann. Deshalb darf man auch beides im Blick haben. Ebenso ist es wahr, dass Menschen in einer Krise wie der gegenwärtigen aggressiv oder depressiv werden bzw. zur Verzweiflung neigen, wie es wahr ist, dass Menschen an ihr wachsen, fle-xibel und kreativ werden, und an Einsichten fürs Leben gewinnen.

Es gibt ein interessantes Wort von meinem Lehrer, dem Psychiater und Philosophen Viktor E. Frankl, der gemeint hat, dass wir nicht die Fragenden sondern die Antwortenden sind. Es ist nutzlos, das Leben zu fragen oder dagegen aufzubegehren, warum unsere Umstände so und so sind, wie das Schicksal sie uns eben präsentiert. Das Leben ist es, das uns quasi die Fragen stellt. Es fragt uns: „Deine Umstände sind so und so – was machst du jetzt? Wie antwortest du darauf? Wie handelst du angesichts der vorliegenden Umstände? Wie stellst du dich zu ihnen ein?“ Darin, in diesem Antwort-geben-Können, ja, Antwort-geben-Müssen liegt unsere Wahlfreiheit. Nie sind wir frei von irgendwelchen Belastungen, allerdings auch nicht von gewissen Ressourcen; sondern wir starten dort in die Freiheit, wo wir beginnen, mit unseren Belastungen und mit unseren Ressourcen auf unsere ganz persönliche Weise umzugehen. Das ist ein Aspekt, der in dem Ausnahmezustand, in dem wir uns befinden, sehr hilfreich sein kann. Nämlich zu wissen: Auf die Antwort von jedem von uns kommt es an.

Tatsächlich beobachten wir unzählige Beispiele von großartigen Antworten, die Menschen in unseren Landen auf die Virus-Ausbreitung geben. Wie viele arbeiten unter Risikobedingungen weiter, um uns mit dem Wichtigsten zu versorgen! Wie viele melden sich freiwillig zur Unterstützung der Alten, Schwachen und Behinderten. Wie viele entwickeln Ideen, um geschäftliche Ausfälle zu kompensieren! Wie viele stehen Bekannten und Nachbarn bei! Ich denke, dass unsere Kinder in der jetzigen Zeitspanne unvergleichlich mehr lernen, als sie in den Schulen lernen würden, die sie momentan nicht besuchen dürfen. Sie lernen Solidarität, Zusammenhalt, Verzicht, Selbstdisziplin, Rücksichtnahme und was sonst noch in Phasen der Bedrängnis nötig ist. Und sie lernen Wertschätzung, wie sie sie bislang nicht gekannt haben. Dass es z. B. wunderschön ist, in einem Park herumtollen zu können. Oder dass es schon das reinste Glück ist, morgens ohne Fieber aufzuwachen und aus dem Bett springen zu können.

Natürlich ist jeder Lernprozess mühsam. Es gibt massive Widerstände, entmutigende Rückschläge, falsche Verführungen. Nichts läuft reibungslos. Trotzdem bin ich überzeugt, dass unsere Gesellschaft nach dem Abklingen dieser Pandemie nicht nur eine negative, nämlich ökonomische Bilanz ziehen wird. Im geistig-seelischen Bereich wird sie vielleicht gar eine positiv getönte Bilanz ziehen. Man wird in seinen Ansprüchen bescheidener sein. Man wird mit weniger Luxus zufrieden sein. Und man wird, so die Hoffnung, soziale und familiäre Beziehungen weniger leichtfertig gefährden, weil man gemerkt hat, dass ein kooperatives, respektvolles Miteinander immer noch trägt, wenn andere Werte hinweg brechen. Freilich hat die drohende Ansteckung ein äußeres Auseinanderrücken verordnet, eine Art soziale Zwangsisolation, doch die innere Verbundenheit der Menschen ist dadurch eher hochgeschnellt. Auch dies ist ein Aspekt, der uns trösten mag: Die innige Verbundenheit mit unseren Lieben und Liebsten bedarf nicht unbedingt der räumlichen Nähe. Das Band der Zuneigung ist nicht von Distanzen und nicht einmal vom Tod zu durchtrennen.

Der Tod ist ein Thema, dem man möglichst ausweichen möchte. Dass er plötzlich nach uns greifen könnte, ist erschreckend. Lauscht man den täglich veröffentlichten Statistiken, kann man ihn kaum mehr aus seinen Ängsten verdrängen. Aber machen wir uns nichts vor: Wir haben kein ewiges (irdisches) Leben zu verlieren. Und weder Jugend noch Fitness schützen vor Unfällen aller Art. Es könnte jetzt die perfekte Gelegenheit sein, sich mit der eigenen Endlichkeit mutig auseinanderzusetzen und den bisherigen Lebenslauf kritisch zu überprüfen. Was war uns gnädig geschenkt? Was ist uns gelungen, was geglückt? Was haben wir erreicht? Worauf können wir stolz sein in unserem Leben? Nichts hindert uns, uns daran von Herzen zu erfreuen. Das Geschehene wird schließlich mit unserem Lebensende nicht ausradiert. Es bleibt gespeichert in der Geschichte über uns und wirkt weiter in der Welt. Jeder hinterlässt seine Spuren.

Wahrscheinlich taucht beim Rückblick auf unser bisheriges Leben auch einiges auf, das missglückt ist. Das unvollständig ist. Oder das geplant und erträumt aber nie angegangen worden ist. Wohlan, nehmen wir es in Angriff! Eine Zeit wie die unsrige warnt vor Aufschüben. Noch können wir uns bei jemandem entschuldigen. Noch können wir jemandem verzeihen. Noch können wir jemandem beteuern, wie viel er oder sie uns bedeutet. Auch können wir manch schlechte Gewohnheit ablegen und unseren Charakter aufpolieren. Leben ist zu kostbar, um mit unnötigen Zänkereien, Jammereien und selbstgebastelten Ärgernissen verschwendet zu werden. Egal, wie groß oder klein der Rest unseres Lebens sein mag, in jedem Augenblick können wir etwas Sinnvolles entdecken, das auf uns wartet und das wir zu verwirklichen imstande sind. Der Tod ist eigentlich der Impuls, unser Leben zur Fülle zu leben.
Die Erfahrung lehrt, dass es nichts Schlechtes gibt, dem nicht auch etwas Gutes entspringen könnte. Schlecht genug ist die Menschheit derzeit beisammen. Trauen wir ihr zu, dass sie mit vereinten Kräften Gutes daraus schöpfen wird. Für das Schlechte hätte es das Corona-Gespenst nicht gebraucht. Umweltverschmutzungen, Klimaturbulenzen, Flüchtlingsströme und politische Zerwürfnisse haben voll ausgereicht. Doch ist mit Corona etwas deutlich geworden, das sich vorher nicht so prägnant im Erkenntnisradius von Millionen abgebildet hat, nämlich die Grenzüberschreitung der Probleme. Inzwischen sehen wir es mit geschärfter Präzision: Wir sind eine Menschheit! Wir gehören zusammen. Wir sind eingeladen, in gemeinsamer Anstrengung unser Dasein zu bewahren und zu gestalten. Als Viktor E. Frankl geradezu hellseherisch geäußert hat, nach Jahrtausenden sei man zum Eingottglauben vorgestoßen, und nunmehr sei es höchste Zeit, zum Glauben an die eine Menschheit zu gelangen, ahnte er nicht, wie brisant sich dieses Anliegen einmal offenbaren würde. Es ist die Chance der Stunde, zu verstehen, dass die gegenseitigen Vorurteile und Animositäten aufhören müssen, weil jeder Mensch eine wertvolle Person ist, unabhängig von seiner Nationalität, seiner Rassen-, Religions- oder Parteienzugehörigkeit. Und dass es unser Auftrag ist, einander zu helfen und nichts als zu helfen, und zwar genauso Grenzen überschreitend, wie es die Probleme der Gegenwart tun.

Jeder kann in seinen vier Wänden damit anfangen. Panik und Pessimismus helfen niemandem. Klagen auch nicht. Wer tätig mit anpacken kann, möge es tun. Wer mit Segenswünschen begleiten kann, möge es tun. Wer Souveränität und Gelassenheit ausstrahlt, trägt konstruktiv zur allgemeinen Stimmungslage bei. Wer von der Gleichgültigkeit zur Nächstenliebe umschwenkt, hat die Lektion unserer Tage gelernt. Das Bewusstsein, noch einer Aufgabe zu dienen, stärkt nachweislich das Selbstwertgefühl und die Immunität des Organismus und hat insofern einen krankheitsverhütenden und lebensverlängernden Effekt, wie der Arzt Frankl erklärt hat. Na ja, derzeit mangelt es uns an allerlei, aber an sinnvollen Aufgaben mangelt es nicht.

Heidi Schönfeld:

Logotherapie in den Zeiten von Corona

Viktor E. Frankl, 1905 in Wien geboren, erlebte und beobachtete in den 30er und 40er Jahren schwierige Zeiten. Es gab viel Not, eine enorm hohe Arbeitslosigkeit, einen sich verschärfenden Antisemitismus. In dieser Zeit entwickelte er schon die zentralen Hauptgedanken der Logotherapie. Seine drei Jahre in vier KZs waren eine Art Prüfstein, ob das Gedankengut etwas taugte in solch extremen Lebenslangen, ob es helfen konnte, psychisch heil zu bleiben unter dramatischen Umständen.

Das tat es: „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ heißt die Essenz. Das Leben behält unter allen, wirklich allen Bedingungen seinen Sinn. Kernaussagen, die in schwerer Not entwickelt worden sind.

Seine Hauptwerke schrieb Frankl vor allem in den 50er Jahren auf dem Hintergrund von selbst erlebten schwierigen Jahrzehnten. Nicht viel später blühte mehr und mehr der Wohlstand und ließ Frankls Werke eher moralisch oder betulich wirken, weil man sich im wachsenden Wohlstand nicht viel um Notlagen kümmern wollte. Allerdings brachen gerade in den Überflussgesellschaften riesige Sinn-Leeren auf, die gelingendes Leben noch stärker belasteten als die wirtschaftliche Not zuvor.

Was hat das mit Corona zu tun?

Keiner kann heute sagen, welche wirtschaftlichen Einbrüche mit welchen immensen Verwerfungen uns bevorstehen, und zwar weltweit. Keiner kann sagen, wie viel reale Not erwachsen wird. Keiner kann sagen, was stark verminderte Sozialkontakte für Folgen haben. Das alles wissen wir heute noch nicht.

Aber vielleicht verstehen wir Frankl besser. Vielleicht begreifen wir unter einer neuen Perspektive, was er eigentlich geschrieben hat und was das für uns bedeutet: heute!

Trotzdem Ja zum Leben sagen. Das Leben behält seinen Sinn, egal wie die Umstände auch sind. Das Leben stellt die Fragen. Menschliches Leben wird nicht von Bedingungen diktiert, die der Mensch antrifft – sondern von Entscheidungen, die er selbst trifft.

Solche Gedanken von Viktor Frankl bekommen auf dem Hintergrund der Corona-Pandemie einen ganz neuen Akzent.

Heidi Schönfeld

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