Elisabeth Lukas

Und Frankl hatte doch recht

Und Frankl hatte doch recht

Eine Text zur Depressionsforschung, die Frankls Differentialdiagnose bestätigt

Und Frankl hatte doch recht

Aus der modernen Depressionsforschung

Der Wiener Neurologe und Psychiater Viktor E. Frankl (1905 – 1997) war ein für seine Zeit und den damaligen wissenschaftlichen Stand erstaunlich exakter Differentialdiagnostiker. So behauptete er unter anderem, dass die seelische Verstimmung namens Depression „nicht gleich Depression“ ist, sondern dass es verschiedene Arten dieser Erkrankung gibt, die sauber von einander unterschieden und entsprechend unterschiedlich behandelt werden müssen. Um seine Auflistung knapp auf den Punkt zu bringen, sei die folgende Unterteilung in Erinnerung gerufen:

Die endogene Depression: Sie geht primär auf neurochemische Störfaktoren zurück, ist größtenteils erblich, tritt eher phasenweise und relativ unabhängig (allenfalls ausgelöst) von äußeren Umständen auf und kann mittels Gaben von Antidepressiva gelindert werden.

Die reaktive Depression: Sie geht primär auf ein erfahrenes Leid bzw. auf herbe Schicksalsschläge zurück, für deren Bewältigung nicht genügend Kompetenzen vorhanden sind. Die Therapie zielt darauf ab, psychische Belastbarkeit und Tragekraft zu erhöhen.

Die noogene Depression: Sie geht primär auf eine existenzielle Frustration zurück, die das eigene Leben und Weiterleben als gleichgültig und ohne Perspektive erscheinen lässt. Hier ist ein Ringen um die Wiederentdeckung von sinnvollen Aufgaben indiziert.

Einer solchen Einteilung der Depressionskrankheiten unterliegt freilich ein dimensionalontologisches Menschenbild, wie es Frankl mit seiner „Personalunion“ von Soma, Psyche und Nous entworfen hat. Was bedeutet, dass man therapeutisch in der jeweiligen Dimension ansetzen muss, die gerade affiziert ist, um nicht am Kern des Krankheitsgeschehens vorbeizuagieren. Da jedoch viele von Frankls Kolleginnen und Kollegen bloß ein zweidimensionales Menschenbild mit Soma und Psyche kannten, haben sie sich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts in die „Biologisten“ und „Psychologisten“, wie ich sie nennen möchte, gespalten. Während die „Biologisten“ im Zuge der sich rasch entwickelnden Hirnforschung dazu tendierten, hauptsächlich neuronale und genetische Prozesse als Depressionsbasis zu interpretieren, hielten die „Psychologisten“ an den Entstehungsgeschichten sämtlicher psychischen Probleme auf Grund von diversen schädigenden Einflüssen fest. Es gelang keine Einigung in der Zunft, weshalb man sich kurzerhand entschloss, die Herkunftsfrage auszuklammern, und bloß noch zwischen leichten, mittleren und schweren Depressionsverläufen zu unterscheiden (vgl. DSM III, 1980). Damit waren fast alle zufrieden, und der Vorteil einer einfachen Rezeptur lag auf der Hand: Je schwerer eine Depression sich äußert, desto mehr medikamentöse Unterstützung ist zu veranlassen, und je leichter eine Depression sich äußert, desto mehr kann man auf die Nutzkraft von begleitenden Gesprächen bauen.
Nicht zufrieden damit waren die logotherapeutisch geschulten Fachleute. Nicht dass sie etwa die eng vernetzten Wechselwirkungen zwischen Soma und Psyche geleugnet hätten. Hat ja selbst Frankl von einem „psychophysischen Parallelismus“ gesprochen (den er allerdings dem noopsychischen Antagonismus gegenüber gestellt hat). Aber die völlige Ignoranz der noogenen Komponente sowie der Wegfall jeglichen dimensionalen Unterscheidungskriteriums in Bezug auf das depressive Krankheitsbild hielten die Franklschülerinnen und -schüler für einen gravierenden Kardinalfehler. Sie haben versucht, in Veröffentlichungen und internationalen Gremien darauf aufmerksam zu machen, doch leider mit geringem Erfolg.
Mittlerweile dürfte sich das Blatt wenden. Inzwischen liegen nämlich hochaktuelle Forschungsergebnisse über die Enzyme des Tryptophan-Stoffwechsels vor, die Frankls Thesen bestätigen! Einer der leitenden Biochemiker auf diesem Gebiet ist Katsuhito Fukuda von der Soka Klinik für psychosomatische Medizin in Saitama/Japan. Er weist seit 2014 in „Open Access Articles“ und ähnlichen Publikationen darauf hin, dass es durchaus verschiedene Depressionsätiologien gibt, die eine genauere Klassifizierung der Depressionsformen erfordern. Immerhin reagieren mehr als ein Drittel aller schwer depressiven Patientinnen und Patienten nicht auf Gaben von Antidepressiva, wohingegen eine Neuorientierung schlecht angepasster Gedankenmuster und Verhaltensweisen, wie sie durch therapeutische Argumentationen eingeleitet werden kann, sich in solchen Fällen als hilfreich entpuppt. Bei anderen Patientinnen und Patienten bleiben ähnliche Gespräche aber völlig fruchtlos. Warum? Weil es sich bei ihnen eben um eine andere Art von Depression handelt.
Fukuda und seine Kollegenschaft konnten im Labor zeigen, dass genetisch bedingte Tryptophan-Ausschüttungsanomalien in Verbindung mit ihren Folgen im weiteren Aminosäurenhaushalt die betreffenden Personen für Depressionen anfällig machen. Diese tragen von Anfang an eine vulnerable Konstitution in sich. Was die Psycho-Pioniere „endogene Depression“ genannt haben, ist also eine Tatsache, an der man nicht mehr vorbeikommt, einschließlich der Beobachtung von Phasenverläufen und den typischen Symptomen von Durchschlafstörungen, Appetitlosigkeit, Konzentrationsschwäche, Interessenverlust und irrationalen Negativeinschätzungen, wie sie die Statistiken bestätigen.
Es ist spannend, dass Fukuda eine zweite, nicht genetisch bedingte sondern im Gastrointestinaltrakt verursachte Depressionsart gefunden hat, die quasi von Entzündungen im Darm, Morbus Crohn etc. angefacht wird. Sie dämpft als Nebenwirkung der inneren Krankheit das Lebensgefühl erheblich herab. Sogar von der Möglichkeit solcher Prozesse hat das Genie Frankl schon eine Ahnung gehabt, als er den Begriff der „somatogenen Pseudoneurosen“ schuf und betonte, dass hormonelle, vegetative und andere rein organische Störungen zu psychiatrisch anmutenden Krisen führen können. In Anlehnung daran könnten wir bei Fukudas Zweitbefund von „somatogenen Pseudodepressionen“ sprechen.
Klar von alledem abgegrenzt haben Fukuda und sein Wissenschaftlerteam die „reaktiven Depressionen“, die sie sich nicht scheuen, mit diesem althergebrachten Namen zu bezeichnen. Zu ihrer Erklärung ziehen sie Stressfaktoren heran, und zwar lange anhaltenden oder unvorhersehbar plötzlich hereinbrechenden Stress, der erst in einem Auswirkungsverfahren den Tryptophan-Stoffwechsel der betroffenen Personen allmählich beeinträchtigt. Diesbezüglich konnte keine genetische Veranlagung eruiert werden, und auch die Symptome weichen von der obigen Beschreibung ab. Es dominieren Sorgen, Ängste, Trauer, Verzweiflung und wenn, dann eher Einschlafstörungen. Die Einnahme von Antidepressiva nützt wenig bis gar nichts.
Nun ja, unter der Vokabel „Stress“ kann man natürlich Vieles subsumieren. Schade, dass im reaktiven Bereich nicht ebenso aufmerksam vorgegangen worden ist wie im endogenen Bereich. Sonst nämlich wäre von den Forschern bemerkt worden, dass es neben allem Druck und aller Qual, die schmerzvolle Ereignisse erzeugen, auch ein „Leiden am scheinbar sinnlosen Leben“ gibt, und dass dieses Leiden eine spezifisch humane Komponente offenbart, die Frankl „noogen“ getauft hat.
Was ist das denn für ein seltsamer Stress, wenn z. B. Angehörige der älteren Generation, darunter wohlhabende, gut situierte Leute in sicheren Positionen, (die falsche) Bilanz ziehen und sich fragen: „Was habe ich bisher von meinem Leben gehabt? Etliche Enttäuschungen, reichlich Mühe und Plage! Und was habe ich vom Rest meines Lebens zu erwarten? Alt werden, schwächer werden, sterben! Lohnt sich dann mein Leben überhaupt noch?“ Was ist das für ein Stress, wenn Angehörige der jüngeren Generation, darunter topfitte und gebildete mit hervorragenden Berufsoptionen, mitten aus ihrem jugendlichen Überschwang in die Hoffnungslosigkeit rutschen, ihr Vertrauen in die Zukunft verlieren und sich sagen: „Es geht sowieso alles kaputt. Die Welt wird immer heißer, immer brutaler, unsere Lebensaussichten werden immer schlechter, unsere Chancen schwinden dahin … Wozu sollen wir uns überhaupt für irgendetwas engagieren?“ Das sind existenzielle und prinzipielle Grundfragen, die weit über individuelle Verluste und Unannehmlichkeiten hinausreichen. Werden keine gültigen und vor allem Sinn stiftende Antworten darauf gefunden, ist der Schritt zur „noogenen Depression“ nicht weit – und da kann die komplexe Balance der Tryptophan-Enzyme im Körper noch lange perfekt funktionieren.
Soma und Psyche sind nicht „die ganze Geschichte vom Menschen“, wie uns Frankl gelehrt hat. Auch wenn ihn moderne Erkenntnisse häppchenweise „rehabilitieren“ (wie es die erwähnten Ergebnisse von Fukuda et alii tun), sollte der Nous, die Geistigkeit des Menschen, nicht wieder und wieder übersehen werden. Macht er doch unsere Freiheit, Verantwortlichkeit, Schöpfungskraft und unverlierbare Personenwürde aus – und die findet man nicht unter dem Elektronenmikroskop.

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