Elisabeth Lukas
Homo patiens
Frankls Erfahrungen in den Konzentrationslagern und zum Leiden aller Menschen: Das Wissen um die Sinnhaftigkeit unserer Aufgaben hilft uns, Leidensfähigkeit zu entwickeln.
Zitat von Viktor E. Frankl, dem Autor des Bestseller-Buches „Man’s Search for Meaning“:
„Vor den Abgrund gestellt, sieht der Mensch in die Tiefe, und wessen er auf dem Grunde des Abgrunds gewahr wird, das ist die tragische Struktur des Daseins. Was sich ihm erschließt, das ist: dass menschliches Sein zutiefst und zuletzt Passion ist – dass es das Wesen des Menschen ist, ein leidender zu sein: Homo patiens.“[1]
Frankl war nicht nur Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Philosoph und Psychotherapeut, er war auch ein „Anwalt des leidenden Menschen“ des homo patiens (in lateinischer Übersetzung). Dieses Recht und diese Aufgabe fielen ihm zu, nachdem er selbst unvorstellbares Leid in den deutschen Todeslagern des 2. Weltkrieges erlitten hatte. Dass er seine Qualen und schmerzlichen familiären Verluste nicht nur physisch, sondern auch seelisch heil überlebt hat, hat Millionen Leserinnen und Leser seines Zeitzeugenberichtes „Man’s Search for Meaning“ bewegt und beeindruckt wie kaum ein anderes Buch. Sein Bericht wurde zum Wegweiser für heroische Leidbewältigung schlechthin.
Schreiben kann man freilich vieles. Es selber leben und vorleben ist weit schwieriger, und genau dies hat Frankl nach seiner Befreiung aus der Zwangsknechtschaft 1945 getan. Er hat buchstäblich den grauen Häftlingskittel ausgezogen und den weißen Arbeitskittel des Arztes wieder angezogen und ging; daran, allen kranken Menschen, die seine Hilfe brauchten, nach besten Kräften zu helfen- und zwar ohne Ansehen der Person! Er fragte keinen seiner Patienten, ob dieser vor dem Krieg Hitlers verbrecherischer Politikvielleicht zugejubelt hatte, ob er dessen Antisemitismus unterstützt hatte, ob er angesichts der ungeheuren Vernichtung unschuldiger Menschen feige weggeschaut hatte …
Nein, Frankl bemühte sich unter Einsatz seiner ganzen therapeutischen Kompetenz, das Leid jedes seiner Patienten zu lindern. Er hat die „Kette des Bösen“ mit einem Akt der Würde durchbrachen. Und exakt so hat er sein Verhalten auch definiert: Er wollte sich seines „zweiten“ Lebens, das er geschenkt bekommen hatte, würdig erweisen. (Sein früheres „erstes“ Leben, so meinte er, sei im Schatten er Gaskammern erloschen.)
Frankls grandioses Vorbild wurde zur Garantie für seine Glaubwürdigkeit. Man nahm ihm die Behauptung ab, dass es keine Lebenssituation gibt, die nicht eine Sinnmöglichkeit in sich berge. Viele rangen sich zu seiner Überzeugung durch, dass der Mensch frei ist, seine innersten Haltungen zu wählen, und dass es gelingen kann, sich geistig über die Dinge und notfalls über bedenkliche Tendenzen in sich selbst zu stellen. Es setzte sich ein Begreifen durch, dass ein erfahrenes Leid nicht wieder an jemanden ausgeteilt werden muss, ja, dass es sogar in einen „menschlichen Triumph“ verwandelt werden kann in der Art und Weise des Umgang damit. Weil die Menschen Frankl glaubten, begannen sie, an sich und ihre eigenen humanen Fähigkeiten zu glauben.
Bei einem meiner Besuche in seiner Wiener Wohnung diskutierte ich mit Frankl darüber. Ich sagte ungefähr folgendes zu ihm: „Herr Professor, Sie haben mit Ihrem Leben bezeugt, was Sie lehren. Aber was sollen wir Schüler machen, die wir keine Kriegsgräuel erlebt haben und keine persönliche Bewährung mitten in der Hölle vorweisen können?“ Frankl sah mich ernst an.
„Ach, Frau Lukas“, antwortete er, „jeder Mensch hat sein Auschwitz!“[2] – Verblüfft schwieg ich.
Längst weiß ich, dass Frankl recht gehabt hat. Man darf ein Leid nicht mit einem anderen vergleichen, und der homo patiens ist überall in der Welt. Es sind nicht nur die entsetzlichen Schrecken, denen die Bevölkerungen in Kriegs- und Terrorgebieten oder Hunger- und Armutszonen bis auf den heutigen Tag ausgeliefert sind. Es sind auch die unvermeidlichen Katastrophen und Schicksalsschläge, die uns dann und wann beuteln. Dazu gesellen sich die „kleinen“ Ärgernisse und Enttäuschungen, die uns den Alltag vergällen, und sich höchst unangenehm aufaddieren. Niemand entkommt dem Leid, jeder hat sein „Auschwitz“…
Deshalb sind Frankls Thesen, deren Effizienz mittlerweile in zahlreichen wissenschaftlichen Studien nachgewiesen worden ist, auch für den „Normalverbraucher“ kostbar und wichtig. Greifen wir nur einen Aspekt heraus, der in den modernen Gesellschaften unseres Zeitalters der Digitalisierung eine erhebliche Rolle spielt: die Verhinderung von Erschöpfungsdepressionen und Burnout Kollapsen. Obwohl Frankl noch nicht mit der ständigen Erreichbarkeit und dem heutigen Bombardement durch die sozialen Medien zu kämpfen hatte, war er dennoch enorm beschäftigt. Als Leiter der Neurologischen Abteilung der Wiener Poliklinik hatte er täglich Patienten zu betreuen. Daneben erwarb er sein 2. Doktorat, habilitierte sich für eine Professur und hielt Vorlesungen – bis zu seinem Lebensende an insgesamt ca. 230 Universitäten rund um den Globus, was mit anstrengenden Vorbereitungen und Flugreisen verbunden war. Damit nicht genug. Er schrieb zahlreiche Fachbücher und baute sein Werk, die Logotherapie, zu einer anthropologisch untermauerten und praktikablen Psychotherapieform aus, die sich mit den bis dahin gängigen Ansätzen durchaus messen konnte, ja, sie teilweise sogar übertraf. Und nicht zu vergessen: Er gründete eine Familie und zeigte sich als liebevoller Ehemann und Vater. Fazit: Er schaffte dies alles, ohne jemals auch nur in die Nähe eines Überlastungssyndroms zu geraten! Wie konnte er so viel Arbeit unbeschadet meistern?
Nun, man macht eine Arbeit gut, wenn man sie gern macht. Nur kann man nicht jede Art von Arbeit mit Begeisterung voll bringen. Es ist z. B. nicht jedermanns Leidenschaft, Geschirr abzuwaschen, zappelige Kinder zu bändigen, langweilige Kostenberechnungen zu erstellen oder schwere Pakete auszutragen. Die simple Formel „change it, love it or leave it“ ist nicht generell anwendbar. Manches lässt sich weder ändern, noch lieben, und kann auch nicht ohne drastische Folgen einfach „verlassen“ werden. Aber etwas ist fast immer machbar: man kann sich den Sinn seiner Tätigkeit in Erinnerung rufen. In dem Augenblick, da das Wozu einer Mühe und Plage im Bewusstsein Platz findet, ändert sich etwas im Menschen. Der innere Widerstand gegen das ihm Abverlangte reduziert sich, und sein Einverständnis damit erhöht sich. Der Wille, etwas Sinnvolles zu leisten, regt sich und schwemmt die Misslaunigkeit fort. Klar ist es schön und sinnvoll, wenn die Küche sauber ist, die Kinder wertschätzende Anleitung erhalten, die Firma auf einer soliden Basis ruht oder die Leute ihre bestellten Pakete erhalten u. s. f. Der „Wille zum Sinn“, wie ihn Frankl beschrieben hat und wovon er selbst beseelt war, streut zumindest Farbtupfer des Trotzdem-gerne-Machens in unseren Alltag, und das verleiht uns zusätzliche Kräfte. Kräfte sogar in zweifacher Hinsicht! Zum einen müssen wir nicht mehr eine Menge Energie aufwenden, um unseren seelischen Widerstand gegen die auf uns wartenden Aufgaben zu überwinden. Diese frei gewordene Energie kommt der Qualität unserer Arbeit zugute. Zum anderen fließt uns bei allem, was wir als sinnvoll erkennen, Energie aus psychophysischen Quellen zu. Man denke etwa an die Einsatzkräfte und Helfer bei Bränden, Überschwemmungen, Erdbeben usw., deren Engagement ausnahmslos bewundernswert und knapp an der Grenze des Menschenmöglichen ist. Oft schuften sie rund um die Uhr, um zu retten, was zu retten ist. Es ist unschwer zu erraten, woher sie die Kraft dafür beziehen. Das Wissen, wie sinnvoll und notwendig ihr Engagement ist, hält sie bei ihren ermüdenden Diensten aufrecht.
Das Wissen um die Sinnhaftigkeit einer persönlichen Aufgabe intensiviert also unsere „Leidensfähigkeit“, wie Frankl es ausgedrückt hat, das heißt, unsere Frustrationstoleranz und unser Durchhaltevermögen. Weitere positive Auswirkungen sind eine Steigerung unserer Kooperationsbereitschaft und unserer Authentizität. Das klingt fast wie ein Widerspruch, ist es aber nicht.
Der Blick auf sinnvolle Projekte und der aufkeimende Wunsch, sie zu realisieren, fördert die Bereitschaft zum Teamwork. Auch gemeinsame Not mit ihrem Kreativitätsappell schmiedet Menschen zusammen. Große Ziele überfordern die Anstrengungen des Einzelnen, können aber in Gemeinschaftsaktionen erreicht werden. Was einem fruchtbaren Teamwork leider häufig im Wege steht, sind Neid, Missgunst, Konkurrenzdenken und die Angst, selber zu kurz zu kommen. Es wird gedanklich und gefühlsmäßig um das Ich rotiert, es wird um das Ich gebangt. Aus dieser „Selbstfesselung“ befreit der Blick auf einen anvisierten Sinn. Frankl sprach symbolisch vom „gesunden Auge, das sich selbst nicht sieht, sondern die Welt außerhalb von sich selbst wahrnimmt“. Menschen, die sich einem zu erfüllenden Sinn in der Welt zuwenden, gewinnen massiv an partnerschaftlichem und kommunikativem Verhalten. Sie werden offen für ein Du.
Gleichzeitig werden sie unabhängiger vom Du, und zwar insofern, als sich ihre Standfestigkeit stärkt. Wer von der Bedeutung seines persönlichen Beitrages und Einsatzes für eine sinnvolle Sache durchdrungen ist, fragt weniger, ob seine Mitmenschen ihn dafür loben, es ihm danken, ob sie ihn behindern oder ignorieren. Er benötigt weder die Anfeuerung durch Fremde, noch stürzt er über Anfeindungen durch Fremde. „Der Misserfolg wird mich nicht beirren, und der Erfolg wird mich nicht verführen“ war Frankls Motto, das ihm zeitlebens half, in den Wogen zwischen mancher gehässiger Kritik durch Fachkollegen und den Faszinationsstürmen seiner Fans treu auf seinem Weg zu bleiben. Er war gelassen und bescheiden und hing sein Herz nicht an seinen Ruhm, was vermutlich seine optimale Trumpfkarte war. Glück und Ruhm stellen sich wenn, dann unbeabsichtigt und unangestrebt ein. Wer treu auf seinem Weg bleibt, jagt keinen Erfolgen hinterher und brennt nicht aus.
Frankl, der, wie erwähnt, auch in seinem „zweiten Leben“ von Strapazen nicht verschont wurde, wusste sich noch mit einer an deren genialen Methode zu schützen. An freien Wochenenden zog er sich mit seiner Gattin auf seinen Lieblingsberg, die Rax[3], zurück. Dort konzentrierte er sich bei Klettertouren auf die Haltegriffe in der Felswand, was ihm half „seelisch abzuschalten“. Oder er entspannte sich bei meditativen Wanderungen über die Gipfel. Jeder Mensch benötigt ein ähnliches „Refugium“, in das er sich zurückziehen kann, um Einkehr in die Stille zu halten. In der Stille spricht unser „Sinn-Organ“ Gewissen am lautesten. In der Abgeschiedenheit können wir am ehesten überprüfen, ob das, was wir für sinnvoll halten, auch wirklich sinnvoll ist. Denn der Sinn verleiht uns nicht nur zusätzliche Potenzen, wie dargelegt, sondern auch die Weisheit, diese Potenzen achtsam zu nutzen und uns nicht blindlings und sinnlos zu verausgaben. Er steuert uns unverletzt durch die Turbulenzen des Lebens.
Frankl betonte wiederholte Male, dass ihm bei seinen Ausflügen auf die Rax die klügsten und stimmigsten Ideen eingefallen sind. Lassen wir uns von diesen seinen Ideen inspirieren – damit wir unser eigenes „Auschwitz“ bravourös durchstehen und „Man’s Search for Meaning“ zu unserem eigenen Wohle verstehen.
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aktueller Text vom 24. Februar 2018
Erstveröffentlichungsrecht Elisabeth-Lukas-Archiv gGmbH
[1] Viktor E. Frankl, „Logotherapie und Existenzanalyse“, Piper, München, 1987, Seite 137.
[2] Name der Stadt, in der im 2. Weltkrieg eines der berüchtigsten Konzentrationslager errichtet worden ist, in dem Tausende Gefangene auf Grund ihrer Rassenzugehörigkeit umgebracht wurden.
[3] Der Berg namens Rax ist südlich von Wien gelegen und relativ rasch von Wien aus zu erreichen. Er hat steile, schroffe Felshänge, die zum Klettersport einladen.
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