Viktor Frankl

„Frieden unter uns“ – Wien im Juli 1946

„Frieden unter uns“ – Wien im Juli 1946

Logotherapie und Krieg

„Frieden unter uns“ – Wien im Juli 1946

Angesichts der Not unserer Zeit zeigen wir Ihnen hier bisher unzugängliche und zum Teil unveröffentlichte Texte von Viktor E. Frankl. (Mit großzügiger Erlaubnis der Familie Frankl)

ABSCHRIFT DES ARTIKELS AUS DER SCHRIFT: DER TURM
Viktor E. Frankl, Vorstand der Neurologischen Poliklinik:
Fragen wir uns nach der Grunderfahrung, die uns in den Konzentrationslagern wurde – in diesem Dasein im Abgrund –, dann lässt sich aus all dem von uns Erlebten als
dessen Quintessenz herausstellen: Entscheidend ist der Mensch. Im Konzentrationslager wurde der Mensch eingeschmolzen auf das Wesentliche an ihm, und das
Wesentliche an ihm ist das Menschliche an ihm. Im Konzentrationslager, wo alles Unwesentliche auf das Wesentliche von den Menschen wegschmolz, geschah ihnen
aber auch noch ein Zweites: Die Menschen wurden zusammengeschweißt. So wurden aus Genossen des Leidens unter der Unmenschlichkeit Genossen des
Kampfes für die Menschlichkeit. Wenn es nun für die Gnade des Überlebens einen Dank gibt – wenn es für das Weiterleben einen Sinn gibt, dann ist er die Fortführung
des Kampfes um die Menschlichkeit.

Menschlichkeit aber fängt erst dort an, wo die Unterschiede zwischen Mensch und Mensch und zwischen den Gruppen aufhören. Von uns kann niemand mehr
verlangen, dass wir unterscheiden zwischen Christen und Juden, zwischen Österreichern und Preußen, zwischen Mitgliedern der einen oder anderen Partei –
nicht einmal zwischen Mitgliedern, Anwärtern, Mitläufern! Wer jedoch wäre berufener, dies zu verkünden, das Gemeinsame zu finden und das Trennende zu
überwinden, als wir? Sollten wir es nicht können, wir, die wir es zu leisten vermochten inmitten der Hölle? Dort mussten wir es erlernen und dort haben wir es
gelernt – jetzt müssen wir es lehren: den Anderen verstehen, wo immer er stehen mag. Denn wir brauchen Verständnis füreinander und wir brauchen Verständigung
füreinander. Wen darf es da wundern, wenn wir erklären: für uns kann es nur eine Politik geben, und das ist die Politik, die – Hände reicht. Möge ja keiner glauben, eine
Politik, die Hände reicht, vergibt sich etwas; umgekehrt: eine Politik, die nur ihrProgramm und ihre Taktik kennt, sie begibt sich des letzten Sinnes und des
Endzwecks ihres Wollens.

Wir wollen bekennen, was wir erkannt haben. Und was wir erkannt haben, das ist: der Mensch. Wir haben den Menschen erkannt als das, was er ist: als das Wesen,
das jederzeit in der Entscheidung steht; ihn als solchen Menschen entdecken, heißt aber immer auch schon: ihn zu sich zu erwecken.
Wir haben den Menschen kennengelernt wie vielleicht bisher noch keine andere Generation. Das Bild vom Menschen, das wir nunmehr haben, ist uns Warnung und
Mahnung und Hoffnung in einem. Welch ein Wesen ist der Mensch! Er ist das Wesen, das die Gaskammern erfunden hat, aber zugleich ist er auch das Wesen,
das in die Gaskammern gegangen ist mit stolz erhobenem Haupt und mit dem Vaterunser auf den Lippen, oder dem Kaddesch (dem jüdischen Totengebet) oder der Marseillaise.
Wann kommt noch die Zeit, und wo bleibt das Volk, das – so wie einst das Judentum der Welt den Montheismus schenkte – in dessen notwendiger Ergänzung endlich der Menschheit den Monanthropismus gibt, den Glauben an die eine Menschheit? An eine Menschheit, die nur mehr eine Unterscheidung kennt: die Unterscheidung zwischen Menschen und Unmenschen.

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