Elisabeth Lukas
Frankls Friedensappell
Frankls Appell zur Bewahrung des Frieden im Angesicht der Ukraine Krise
Es war im April 2022, als Politiker höchsten Ranges in Ost und West das Wort von einem möglichen „dritten Weltkrieg“ in den Mund nahmen. Ein globales Erschrecken lief um den Erdball. So mancher fragte sich bange, ob die letzten Tage der Menschheit angebrochen seien.
Dabei ist solch ein Erschrecken keinesfalls neu. Ein Dreivierteljahrhundert zuvor machten sich viele Menschen im Nachkriegseuropa ähnliche Gedanken. Im März 1949 schrieb Hans Thirring aus Wien an Viktor E. Frankl folgenden Brief:
„Sehr geehrter Herr Doktor, im Namen von Franz Theodor Csokor, Ehrenpräsident der österreichischen Friedensgesellschaft, Ernst Fischer und Prof. Edwin Rollet, die gemeinsam mit mir das beiliegende Telegramm an das „Internationale Büro der Intellektuellen für den Frieden“ in Paris unterzeichnet haben, übersende ich Ihnen den Aufruf des genannten Büros zur Verbreitung eines Weltfriedenskongresses. Wir halten die Entstehung einer allumfassenden Friedensbewegung und den Kontakt mit allen Kräften des Friedens für eine Notwendigkeit und bitten Sie daher, sich unserer Initiative anzuschließen, das beiliegende Telegramm zu unterzeichnen und an meine Adresse einzusenden. Ihrer zustimmenden Antwort entgegensehend grüßt Sie mit vorzüglicher Hochachtung Ihr Hans Thirring.“
Die Entstehung einer allumfassenden Friedensbewegung – wäre dies nicht die dringlichste aller Notwendigkeiten auch heute im 21. Jahrhundert? Freilich haben sich inzwischen weitere Bedrohlichkeiten aller Art auf unserem Planeten eingenistet, vom Virusbefall über die dräuende Klimakrise bis hin zur radikalen Umweltverschmutzung. Aber genau solchen völkerübergreifenden Problemen können – wenn überhaupt! – nur geeinte Völker die Stirn bieten. Zerstrittene Völker, mit ihrem Streit okkupierte Völker, haben diesbezüglich keine Chance. Das bedeutet, dass der Frieden in jeder Hinsicht die Voraussetzung für gedeihliches menschliches Leben ist.
Lesen wir nach, was Frankl auf die Anfrage von Hans Thirring im Jahr 1949 geantwortet hat:
Für einen Weltkongress der Kämpfer für den Frieden
Das „Internationale Büro der Intellektuellen für den Frieden“, der „Weltbund demokratischer Frauen“ und die unterzeichneten Persönlichkeiten sind durch die immer stärker werdende Bedrohung des Friedens beunruhigt.
In verschiedenen Ländern säen Presse, Rundfunk und Männer der Politik offen Feindschaft und Hass gegen andere Länder und machen Propaganda für einen neuen Krieg. Statt Armeen und Rüstungen abzubauen, wie man es nach dem Ende des Weltkrieges hätte erwarten müssen, beschreitet man den Weg der Aufrüstung. Man schafft militärische Blocks, die eine Bedrohung des friedlichen Zusammenlebens der Völker darstellen. An verschiedenen Punkten der Welt brennen wieder Kriegsherde, entfacht und erhalten durch Intervention fremder Länder und durch direktes Eingreifen ihrer bewaffneten Kräfte.
Aber die Völker wollen keinen Krieg. Sie wollen keine neue Schlächterei, keine neuen Ruinen und Verwüstungen. Und die Pflicht aller ehrlichen Menschen der Kunst, der Wissenschaft, der Literatur, die Pflicht aller demokratischen Organisationen ist es, sich mit Entschiedenheit und mit leidenschaftlichem Willen zur Einheit der Verteidigung des Friedens der Völker zu widmen. Deshalb wenden wir uns an alle demokratischen Organisationen, deren natürliche Aufgabe die Verteidigung des Friedens ist, und an alle fortschrittlichen Menschen aller Länder: an die Gewerkschaften, Frauenbewegung, an die Jugend und ihre internationalen Organisationen, an die Bauern, an die Genossenschaften, an religiöse und kulturelle Organisationen, an die Wissenschaftler, Schriftsteller, die Journalisten, Künstler, demokratischen Politiker, an alle, die für den Frieden sind. Und wir rufen sie auf und bitten sie, sich zu sammeln, um im April dieses Jahres einen Weltkongress der Kämpfer für den Frieden einzuberufen, deren Zweck es sein wird,
alle Kräfte der Völker der Länder zur Verteidigung des Friedens zu vereinigen. Wir hoffen mit größter Gewissheit, dass überall in der Welt die Kämpfer für den Frieden sich erheben werden.
Das Dokument ist unterschrieben mit: Dozent Dr. Viktor Frankl, Vorstand der Neurologischen Poliklinik in Wien.
Leider hat Frankl, der zwei Weltkriege durchlitten und mit knapper Not überstanden hat, die Hoffnung auf die größte Gewissheit, dass sich nach all dem Elend und Massaker überall in der Welt Kämpfer für den Frieden erheben werden, überschätzt. Dennoch dürfen wir seiner prinzipiellen Aussage, dass die Völker keinen Krieg wollen, Glauben schenken. Die Völker wollen, wenn nur irgendwie machbar, in Frieden und Zufriedenheit leben. Doch bestehen die Völker aus unzähligen Einzelindividuen, und darunter gibt es immer welche, die aus egoistischen oder psychopathischen Motiven Friedensstörung anzetteln bzw. für das Einheimsen von Eigenvorteilen in Kauf nehmen. Verfügen solche Individuen über ein hinreichendes Machtpotential, wird es brenzlig. Wir dürfen jedoch die Schuld nicht nur auf diktatorische Machthaber schieben. Ihre Macht wäre limitiert, hätten sie nicht ein Heer an Mitläufern, auf das sie sich stützen können.
Interessant an obigem Antwortschreiben von Frankl ist, dass er sich mit seinem Appell u. a. an die Frauen und an die Jugend wandte – in einer Zeit, in der dies nicht üblich war. Frankl war überzeugt, dass der leidenschaftche Wille zur Verteidigung des Friedens schon früh in den Familien gefördert werden sollte, insbesondere von den Müttern bei ihren Söhnen und Töchtern, um eine Generation hervorzubringen, die zunehmend imstande ist, Konflikte zu lösen ohne an Humanität einzubüßen.
Dass dies bis heute nicht gelungen ist und immer noch der Realisierung harrt, beweist eine aktuelle Statistik aus den USA. Ihr zufolge bestand 2021 die häufigste Todesursache junger Menschen im Gebrauch von Schusswaffen (!). An 2. Stelle standen Verkehrsunfälle, und an 3. Stelle kamen Vergiftungen auf Grund von Drogenkonsum. Es ist kaum zu fassen: In einem der
modernsten und demokratischsten Länder der Welt mit einem guten Teil an wohlhabenden und gebildeten Leuten kommen junge Menschen ums Leben, weil sie sich gegenseitig und andere „bekriegen“! Dabei sind alle ihre drei häufigsten Todesursachen mehr oder weniger in Freiheit gewählt und nicht etwa Schicksalsfaktoren. Man steht in der Blüte der Jugend, aber man schießt um sich, man rast über die Fahrbahnen, man betäubt sich … warum? Frieden wäre das schiere Gegenteil davon: Man verzichtet auf Schießereien, man gestaltet den Verkehr moderat und im Einklang mit der Natur, und man schließt Frieden mit sich selbst und seinen Optionen. Frankl sprach von einer Pflicht aller ehrlichen Menschen, sich für den Frieden zu erheben, und diese Pflicht beginnt offenbar schon in den Keimzellen der Familien.
Das Bedrückende ist: Die gesamte Aussage des von Frankl 1949 unterzeichneten Dokuments könnte mit wenigen Änderungen direkt aus unserer Gegenwart stammen: statt Armeen und Rüstungen abzubauen … man schafft militärische Blocks … an verschiedenen Punkten der Welt brennen wieder Kriegsherde … Ist aus den Gräueln der vergangenen Jahrhunderte gar nichts dazugelernt worden? Kann das lernfähigste Geschöpf der Erde keine Erkenntnisse aus seinen eigenen Verfehlungen ziehen? Anders gefragt: Was muss noch alles passieren, damit derlei Erkenntnisse nicht einmal zu spät kommen?
In einem Vergleich von Gemeinschaft und Masse hat Frankl eine denkbare Erklärung für diese seltsame „Lernschwäche“ des homo sapiens angeboten. Während der Mensch dadurch, dass er Aufgaben in einer Gemeinschaft übernimmt, an Verantwortlichkeit gewinnt, verliert er in der Flucht oder im Untertauchen in einer Masse sein Eigentliches, nämlich seine Verantwortlichkeit bzw. sein Gefühl dafür.
Frankl: „Wahre Gemeinschaft ist wesentlich Gemeinschaft verantwortlicher Personen – bloße Masse aber nur Summe entpersönlichter Wesen“1.
1 Viktor E. Frankl, „Ärztliche Seelsorge“, Hans Huber, Hogrefe AG Bern, 62015, Seite 127.
Das bedeutet, dass bei allen durch suggestive Propaganda hervorgerufenen Massenphänomenen, bei denen Kollektive gegen Kollektive aufgehetzt werden, eine Art „Entpersönlichung“ stattfindet, die den Einzelnen scheinbar von seiner Eigenbeurteilung und Eigenverantwortung entbindet. Nicht viel besser ergeht es Soldaten, die in einen Krieg eingezogen werden und gezwungen sind, ununterbrochen sinnwidrigen und menschenverachtenden Befehlen zu gehorchen. Ihr Gefühl für persönliche Verantwortung wird bewusst auf Null hinuntergeschraubt, was ebenfalls einer Entpersönlichung gleichkommt. Im Status der Entpersönlichung handeln Menschen als wären sie Roboter ohne Gewissen und ohne ethisches Empfinden, nur darauf bedacht, aus der Masse nicht herauszutreten, der sie (freiwillig oder zwangsweise) zugehören. Ihr Menschsein wird sozusagen von der Masse verschlungen.
Demzufolge könnte die Zukunft unserer Spezies davon abhängen, was im Wettlauf letztlich als Sieger hervorgehen wird: eine Weltgemeinschaft verantwortungsbewusster Personen oder eine Masse entpersönlichter Wesen.
Frankls Sicht als Psychiater
Im August 1969, wurde Frankl gebeten, auf einer internationalen Tagung der Universität Wien zum Thema „Das Problem des Friedens“ in englischer Sprache einige Aspekte zur Vermeidung von Kriegsgefahren zu erläutern. Die Quintessenz seiner damaligen Rede ist dank eines Kongressberichtes erhalten.
Schmunzelnd bemerkte Frankl zu Anfang, dass Psychiater weder allwissend noch allmächtig seien, sie seien nur eines: allgegenwärtig, nämlich auf sämtlichen Meetings und Kongressen. Danach wurde er ernst. Tatsächlich würden gewisse Parallelen zwischen individuellen und sozialen Pathologien existieren. Zum Beispiel sei das Unheil, das überzogene „Erwartungsängste“ anrichten können, nicht von der Hand zu weisen. Wenn z. B. ein Sprecher sich extrem fürchtet, er werde stottern und sich vor seinen Zuhörerinnen und Zuhörern blamieren, gerät er schnell ins Stocken und Stottern, das heißt, das Gefürchtete tritt mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ein. Dies erhöht seine Furcht, weil sie sich in seinen Augen als berechtigt herausgestellt hat, und sein Redefluss wird noch mehr gestört. Ein tragischer Kreisprozess beginnt sich einzuschleifen. Frankl stellte die Frage in den Raum: „Ist es nicht möglich, dass auch Kriege mit ausgelöst werden durch eine überhöhte Kriegsangst?“ Ist es doch gerade die Kriegsangst, die zum vorzeitigen „Säbelrasseln“ verleitet, sowie zu Sanktions- und Drohgebärden dem gefürchteten Feind gegenüber, die diesen nur noch nervöser und aggressiver machen. Danach entwickelte Frankl Vorschläge, wie eine Hineinsteigerung in eine Kriegsangst beizeiten gebremst werden könnte, etwa durch vertrauensbildende Maßnahmen, Rückbesinnung auf die eigene Stabilität und Einübung in Gelassenheit.
Als nächstes leitete Frankl auf psychotische Mechanismen über. Unter Bezugnahme auf den Verfolgungswahn, unter dem manche psychisch kranke Menschen leiden, erklärte er, dass solche Patienten dazu neigen, andere Personen ununterbrochen zu beobachten, ob diese sie verfolgen bzw. ihnen etwas antun wollen. Die Kranken sind quasi von ihren eigenen (falschen) Ideen „verfolgte Verfolger“. Erst wenn man sie dazu bringen kann, ihre Beobachtung und gedankliche Verfolgung anderer Leute aufzugeben, reduziert sich ihr Verfolgtheitsgefühl. Frankl stellte die Frage in den Raum, ob man nicht auch daraus eine Lektion zur Kriegsabwehr ableiten könnte. Wie die übermäßige Angst das Gefürchtete geradezu anzieht, so erzeugt Misstrauen ein Retour-Misstrauen beim Gegner; und jedes Misstrauen schlägt sich in neuerlichem Misstrauen verstärkenden „Vorsorgehandlungen wider den Gegner“ (wie Abschottung, Aufrüstung, Verbündetensuche …) nieder. Wiederum wäre zu überlegen, ob nicht ein Vertrauens- und Freundschaftsvorschuss den Feind eher entwaffnen würde als eine akribisch genaue Beobachtung seiner Aktivitäten in Hinblick auf möglicherweise zu erwartende Attacken seinerseits.
Das Geforderte ist allerdings extrem schwierig. Mut statt Angst, Vertrauen statt Misstrauen … was gewährt uns die Kraft, von dem einen ins andere
hinüberzuwechseln? Um darauf zu antworten, schlug Frankl in seiner Rede einen kleinen Umweg ein.
Frankl: „Der Krieg wurde bekanntlich definiert als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Dies gilt jedoch nur von dem einen der zwei Typen von Politik, die ich persönlich unterscheide. Für die eine Politik scheint der Zweck jedes Mittel zu heiligen. Die andere Politik hingegen weiß sehr wohl, dass es Mittel gibt, die selbst den heiligsten Zweck zu entweihen vermöchten.“
Damit war Frankl beim Thema Mittel und Zweck angelangt. Nicht jedes Mittel ist zur Zweckerreichung erlaubt! Und wie steht es mit den Zwecken? Logischerweise sind auch nicht jeder Zweck und jedwede Zwecksetzung vertretbar. „Es ist klar, dass dies alles letzten Endes auf eine Wertfrage hinausläuft“, resümierte Frankl seine Überlegungen, um sich sogleich weiterzutasten:
Frankl: „Gibt es Werte, die von ganzen Gruppen anerkannt werden? Gibt es einen gemeinsamen Nenner bezüglich dessen, was für diese Gruppen das Leben lebenswert macht?“
Zweifellos war Frankl der Ansicht, dass es solche Menschheit verbindende Werte gibt, die anzustreben eben Menschen verbindet und ihnen die nötige Kraft zufließen lässt, den Werten zuliebe Hürden zu überspringen.
Frankl: „Wenn diesbezüglich eines feststeht, dann ist es das folgende: Bloßes Überleben kann nicht der höchste Wert sein. Mensch sein heißt ausgerichtet und hingeordnet sein auf etwas, das nicht wieder es selbst ist. Menschliche Existenz ist charakterisiert durch ihre Selbsttranszendenz. Sobald menschliches Dasein nicht mehr über sich selbst hinausweist, wird Am-Leben-Bleiben sinnlos und unattraktiv, ja fast unmöglich. Dies zumindest war die Lehre, die mir in drei Jahren zuteil wurde, die ich in Auschwitz
und Dachau verbringen musste. Inzwischen konnten Militärpsychiater in aller Welt bestätigen, dass jene Kriegsgefangenen noch am ehesten fähig waren zu überleben, die auf die Zukunft hin orientiert waren, auf ein Ziel in der Zukunft, auf einen Sinn, den es in der Zukunft zu erfüllen galt. Sollte Analoges nicht auch dort gelten, wo es um die Menschheit und deren Überleben geht?“
Am Ende seines gedanklichen Umwegs gab Frankl also Antwort auf die Frage, was uns die Kraft gewährt, Gefordertes (zur Kriegsabwehr und Friedensscherung) zu vollbringen: Das inbrünstige Anvisieren eines sinnvollen gemeinsamen Zieles wie etwa die Eroberung einer menschenwürdigen Zukunft für alle. Sein monumentales Schlusswort sei für eine spätere Textstelle reserviert.
Frankls Sicht als KZ-Überlebender
Frankl sprach von einer „Lehre“, die er aus der schlimmsten Zeit seines Lebens mitgenommen habe. Kaum dem nahezu sicheren Tod entronnen, war er bereit, diese Lehre an interessierte Personen weiterzugeben. Man kann nicht genug staunen, dass er zwei lauernden Fallen souverän ausgewichen ist, wodurch es ihm schließlich geglückt ist, sich seelisch zu regenerieren. Die eine Falle, in die traumatisierte Menschen schnell hineintappen, ist das verbissene Schweigen und „In-sich-hinein-Fressen“ erlittenen Unrechts und erlittener Schmach. Was man nicht „aus sich herausbringt“, zu dem kann man nicht die notwendige Distanz finden, um es zu bearbeiten und irgendwann konstruktiv abzulegen. Die andere Falle, die auf traumatisierte Menschen lauert, ist das Suhlen im Selbstmitleid, verknüpft mit endlosen Klagen und Anklagen, die bei aller Berechtigung wie ein Strudel in immer lichtfernere Tiefen hinabziehen. Frankl vermied beides und verwandelte sein immenses Leid in eine Leistung – nicht nur, indem er es heroisch trug, sondern auch, indem er bemerkenswerte Einsichten herausmeißelte, die er sich im
Leid abgerungen hatte, und die für viele Arten ähnlichen Martyriums relevant sind.
Einige solcher Einsichten hat er in der Monatsschrift für österreichische Kultur „Der Turm“ im Heft vom Juli 1946 zusammengefasst und publiziert. Sie sind so ergreifend und allzeit gültig, dass sie es wert wären, in sämtlichen Schulklassen der heranwachsenden Generation übermittelt zu werden.
Frankl: „Fragen wir uns nach der Grunderfahrung, die uns in den Konzentrationslagern wurde – in diesem Dasein am Abgrund –, dann lässt sich aus all dem von uns Erlebten als dessen Quintessenz herausstellen: Entscheidend ist der Mensch. Im Konzentrationslager wurde der Mensch eingeschmolzen auf das Wesentliche an ihm, und das Wesentliche an ihm ist das Menschliche an ihm. Im Konzentrationslager, wo alles Unwesentliche auf das Wesentliche von den Menschen wegschmolz, geschah ihnen aber auch noch ein Zweites: Die Menschen wurden zusammengeschweißt. So wurden aus Genossen des Leidens unter der Unmenschlichkeit Genossen des Kampfes für die Menschlichkeit. Wenn es nun für die Gnade des Überlebens einen Dank gibt – wenn es für das Weiterleben einen Sinn gibt, dann ist er die Fortführung des Kampfes um die Menschlichkeit.
Menschlichkeit aber fängt dort an, wo die Unterschiede zwischen Mensch und Mensch und zwischen den Gruppen aufhören. Von uns kann niemand mehr verlangen, dass wir unterscheiden zwischen Christen und Juden, zwischen Österreichern und Preußen, zwischen Mitgliedern der einen oder anderen Partei – nicht einmal zwischen Mitgliedern, Anwärtern, Mitläufern! Wer jedoch wäre berufener, dies zu verkünden, das Gemeinsame zu finden und das Trennende zu überwinden, als wir? Sollten wir es nicht können, wir, die wir es zu leisten vermochten inmitten der Hölle? Dort mussten wir es erlernen und dort haben wir es gelernt – jetzt müssen wir es lehren: den Anderen verstehen, wo immer er stehen mag. Denn wir brauchen Verständnis füreinander und wir brauchen Verständigung füreinander. Wen darf es da wundern, wenn wir erklären, für uns kann es nur eine Politik geben, und das ist die Politik, die – Hände reicht. Möge ja keiner glauben, eine Politik, die
Hände reicht, vergibt sich etwas; umgekehrt: eine Politik, die nur ihr Programm und ihre Taktik kennt, sie begibt sich des letzten Sinnes und des Endzwecks ihres Wollens.
Wir wollen bekennen, was wir erkannt haben. Und was wir erkannt haben, das ist der Mensch. Wir haben den Menschen erkannt als das, was er ist: als das Wesen, das jederzeit in der Entscheidung steht; ihn als solchen Menschen entdecken, heißt aber immer auch schon, ihn zu sich zu erwecken.
Wir haben den Menschen kennengelernt wie vielleicht bisher noch keine Generation. Das Bild vom Menschen, das wir nunmehr haben, ist uns Warnung und Mahnung und Hoffnung in einem. Welch ein Wesen ist der Mensch? Er ist das Wesen, das die Gaskammern erfunden hat, aber zugleich ist er auch das Wesen, das in die Gaskammern gegangen ist mit stolz erhobenem Haupt und mit dem Vaterunser auf den Lippen, oder dem Kaddesch (dem jüdischen Totengebet) oder der Marseillaise.
Wann kommt doch die Zeit und wo bleibt das Volk, das – so wie einst das Judentum der Welt den Monotheismus schenkte – in dessen notwendiger Ergänzung endlich der Menschheit den Monanthropismus gibt, den Glauben an die eine Menschheit? An eine Menschheit, die nur mehr eine Unterscheidung kennt: die Unterscheidung zwischen Menschen und Unmenschen.“
Glauben an die eine Menschheit?
Wann kommt die Zeit des Monanthropismus? Immer wieder hat Frankl in seinen Reden und Schriften einen solchen zur Diskussion gebracht. Spüren wir diesem Begriff, der ihm so viel bedeutet hat, ein wenig nach.
Nun, mit dem puren Wissen um die eine Menschheit steht es nicht einmal schlecht. Die Anthropologen haben längst festgestellt, dass die gesamte Menschheit von einer prähumanen Tiergattung abstammt und sich erst im Laufe von Jahrmillionen in unterschiedliche Rassen und Formationen aufgegliedert hat. Der manchmal als naiv belächelte Satz, dass wir alle Brüder
und Schwestern sind, stimmt aus weitläufiger Perspektive durchaus: Wir sind genetisch miteinander verwandt.
Auch in anderer Hinsicht hat sich dieses Wissen vertieft. Spätestens seit der Erfindung von Atombomben und Nuklearwaffen ist klar geworden, dass die gesamte Menschheit sozusagen in einem Boot sitzt. In Abständen wird ihr dies höchst ungemütlich in Erinnerung gerufen. Seit der allmählich heraufdämmernden Erkenntnis, dass sich das Klima weltumspannend aufheizt und die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen verkümmern, ist dieses Bewusstsein noch um etliche Grade schärfer geworden. Der Ausbruch der Pandemie im Jahr 2019 hat der Bewusstseinsverschärfung einen zusätzlichen Kick verliehen. Auch der Prozess der Globalisierung und medialen Vernetzung, der nicht nur positive Seiten hat, hat das Wissen um die eine Menschheit vorangetrieben.
Aber es ist nicht primär das Wissen, das Frankl mit seinem Anliegen gemeint hat, das er im Schlusswort seiner englischen Kongressrede von 1969 noch präzisiert hat:
Frankl: „Sollen jedoch Werte, soll ein Sinn gefunden werden, der für alle gilt, dann muss die Menschheit, nachdem sie vor Tausenden von Jahren den Monotheismus hervorbrachte, den Glauben an den einen Gott, nunmehr einen weiteren Schritt folgen lassen, nämlich das Wissen um die eine Menschheit. Mehr denn je brauchen wir heute einen Monanthropismus.“
Nicht zufällig zog er mit der Begriffsbildung des „Monanthropismus“ die Parallele zum Monotheismus. Denn beim Monotheismus handelt es sich um kein Wissen, sondern um einen andächtigen Glauben an etwas Unwissbares. Auch bezüglich des Monanthropismus wollte Frankl einer Glaubensüberzeugung Raum geben, nämlich der nicht minder innigen Überzeugung, dass alle Menschen gleich wichtig und gleich würdig sind, und sich als Zugehörige einer einzigen Gemeinschaft verstehen dürfen, die das Privileg hat, zum Leben erwacht zu sein, die aber auch die Pflicht hat, dieses ihr Leben verantwortungsvoll zu verwalten und zu gestalten. Und mit der Anspielung darauf, dass die Menschheit Jahrtausende gebraucht hat, um zum Eingottglau-ben vorzustoßen, wollte Frankl indirekt davor warnen, dass sie nicht noch einmal Jahrtausende Zeit habe, um sich zu einem „Einemenschheitsglau-ben“ durchzuringen – diese Einsicht braucht es heute, wie er eindringlich – vor Jahrzehnten! – gemahnt hat.
Überlegen wir: Was kann der Glaube an die eine Menschheit bewirken? Ich denke zweierlei, nämlich etwas im Großen und, da sich alles Große aus Kleinem konstituiert, auch etwas im Kleinen.
Betrachten wir zunächst das Große. Schon seit Längerem greift ein massiver Vertrauensverlust in die Zukunft um sich, und der „No-future-Aufschrei“ stammt nicht nur aus jungen Kehlen oder aus Gegenden erbärmlicher Lebensumstände. Auch viele Leute in den satten, reichen Ländern haben sich von der einstigen Spaß- und Fun-Gesellschaft mit ihren Selbstverwirklichungsflausen verabschiedet und in eine verwöhnt jammernde, besorgte, ängstlich-depressive Meute verwandelt. Ja, sie meutern vehement. Es ist, als hätten sie gerade erst erfasst, dass die Menschheit sterben wird. Und natürlich wird sie irgendwann sterben. Vielleicht schon lange bevor unser Planetensystem in der erlöschenden Sonne, die sich zum „roten Riesen“ aufblähen wird, verglüht. (Sollte man bis dahin den oft zitierten „Planeten B“ gefunden und besiedelt haben, so blüht ihm ein analoges Schicksal.) Spielt das eine Rolle? In Wirklichkeit nicht. Auf die Länge des Lebens kommt es nicht an, wie Frankl betont hat.
Frankl: „… dass Leben niemals Selbstzweck, dass seine Fortpflanzung niemals sein eigener Sinn sein kann, vielmehr erhält es seinen Sinn erst aus anderen, nichtbiologischen Bezügen … Das Leben transzendiert sich selbst nicht in die ‚Länge’ – im Sinne seiner eigenen Fortpflanzung –, sondern ‚in die Höhe’ – indem es einen Sinn intendiert.“2
2 Viktor E. Frankl, „Ärztliche Seelsorge“, Hans Huber, Hogrefe AG Bern, 62015, Seite 123.
Das bedeutet, dass die zentrale Frage nicht lautet, wie lange die Menschheit fortbestehen wird, sondern ob sie während ihres Bestandes Sinnvolles intendieren, schaffen, hervorbringen wird. Ob der letzte wahre Unterschied, den Frankl geortet hat, nämlich der zwischen Menschen und Unmenschen fallen wird, weil sich die Unmenschen „bekehrt“ haben? Trotz diverser philosophischer oder literarischer Unkenrufe und Hinweise auf das widerwärtig Destruktive und Grausame, das die Menschheitsgeschichte unrühmlich durchzieht, ist die Hoffnung darauf nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Wie viel Sinnvolles und Schönes ist doch in der kulturellen Entwicklung der Spezies Mensch bisher ebenfalls kreiert worden! Wie viel Sinnvolles und Hilfreiches ist in ihrer sozialen Entwicklung bereits etabliert worden! Wie viel Sinnvolles und Nützliches ist dank ihrer technischen Entwicklung in rasantem Tempo erfunden worden! Gewiss, die ethische Entwicklung dümpelt hinterher, aber selbst in ihr hat es Fortschritte gegeben. Wir wissen nicht, wohin die Menschheit generell driftet, aber den Glauben daran, dass ihr eine Sinnerfüllungskompetenz eignet, die sie bei einigem guten Willen befähigen wird, den negativen Verlockungen zunehmend zu widerstehen, und das Beste in sich peu à peu zur Entfaltung zu bringen, diesen Glauben sollten wir im Herzen nähren und bewahren. Es ist exakt der Glaube, der Frankl bei seinem Konzept von einem Monanthropismus vorgeschwebt haben mag.
Womit wir bei dem Kleinen angelangt sind, aus dem alles Große aufgebaut ist. Wir entstammen nämlich nicht nur alle demselben Geschlecht, wir sind auch alle geistige Personen und als solche keinesfalls miteinander verwandt. Im Gegenteil: Jede Person ist ein absolutes Novum, einzigartig in ihrem Wesen, wie Frankl nicht müde wurde, zu erläutern. Seltsamerweise gründet unsere Einzigartigkeit in unserer Unvollkommenheit, denn wären wir alle vollkommen, dann wären wir alle gleich. Aber nein, jeder hat seine besonderen Stärken und Schwächen, Talente und Gaben, Grenzen und Dispositionen. Das alles ließe sich zur Not aus seinem Erbgut und den Umwelteinflüssen ableiten, aber was der Einzelne jeweils daraus macht, wozu er Ererbtes und Erzogenes verwendet, welches seiner Talente er brach liegen
lässt, oder welche seiner Schwächen er trotzmächtig überwindet, das bleibt „sein Geheimnis“, mit keinen inneren oder äußeren Faktoren total erklärlich. Es ist das „Material“, dem seine Einzigartigkeit entspringt.
Was aber hat unsere spezifisch humane Einzigartigkeit mit den großen Menschheitsfragen zu tun? Lesen wir wiederum bei Frankl nach.
Frankls: „Einzigartigkeit vermag nur dann wertvoll zu sein, wenn sie nicht Einzigartigkeit für sich ist, sondern Einzigartigkeit für die menschliche Gemeinschaft.“3
Nicht umsonst wurden wir mit Geistigkeit ausgestattet. Nicht ohne Anforderung und Auftrag ist uns ein „Wille zum Sinn“ in die Seele geschrieben. Jeder Einzelne kann und soll einen Beitrag dazu leisten, dass die menschliche Gemeinschaft – statt in zeitliche Länge und Bevölkerungsdichte – in die „Höhe“ wächst, in ein höheres Sein hinein, als es ihr derzeitiges Niveau ist. Jeder ist auf seine persönliche Weise ein Hoffnungsschimmer für die Miniwelt, der er angehört. Es stellt keine Kunst dar, diesen Schimmer abzuwürgen und sich jeglichem Sinnangebot zu verweigern. Dazu kann man sich leicht entschließen, um danach über das Elend auf Erden zu schimpfen. Die Kunst ist vielmehr, das unfruchtbare Schimpfen zu beenden und das Elend gütig zu lindern, wo immer dies möglich ist.
Was also wird unsere Zukunft sein? Gerne möchte ich mich Frankl Appell anschließen: Lasst uns glauben an die Menschheit, an die eine, die es nur einmal gibt, durchweht vom Hauch des Geistes! Und lasst uns unbeirrt mitwirken, jeder an seinem Platz, dass man zu Recht an sie glauben darf!
3 Viktor E. Frankl, „Die Sinnfrage in der Psychotherapie“, Serie Piper, München, 6 1996, Seite 100
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