Elisabeth Lukas

Ein Gesundheitsnotstand im Land der 1000 Möglichkeiten?

Ein Gesundheitsnotstand im Land der 1000 Möglichkeiten?

Hier nimmt Elisabeth Lukas Stellung zur aktuellen Drogenproblematik in den USA

Ein Gesundheitsnotstand im Land der 1000 Möglichkeiten?

Am zuletzt skizzierten Stichwort anknüpfend möchte ich die Bedeutung der Franklschen Einsichten an Hand des so wichtigen Themas „Freude“ spezifizieren. Jeder Mensch möchte sich freuen. Ohne Freude ist das Leben öde, schal und leer. Der Durchschnittsbürger meint sogar, dass er eher nach Freude in seinem Leben verlangt, als nach Sinn. Und nicht selten hegt er die Überzeugung, dass er sich mit genügend Geld alles, eben auch die Freude, kaufen könne.

Durchschnittsbürger haben im Allgemeinen ein natürliches Empfinden für das Richtige, doch in Bezug auf die Freude sind sie in einem gravierenden Irrtum befangen. Würden sie bei Frankl nachlesen, würde ihnen ihr Irrtum alsbald aufdämmern, aber die modernen Durchschnittsbürger von heute sind keine „Leseratten“ mehr. Sie sind es gewohnt, Knöpfe zu drücken und über Bildschirme zu wischen, und sich von Filmemachern, Medienprofis und einem Sammelsurium von geäußerten Meinungen im Internet fix und fertige Denkmodelle servieren zu lassen, die sie der Einfachheit halber übernehmen. Je komplexer Wissensmodule werden, desto weniger durchschaubar sind sie, und am Ende jeder Wissensüberflutung steht meistens die Verdummung.
Es sind die braven Durchschnittsbürger, die ihren Irrtum in Bezug auf die Freude büßen. Denn Tatsache ist, dass sich Freude im Leben weder erhaschen noch erkaufen lässt. Nichts verscheucht sie sicherer als die Bemühung, sie zu erzwingen. Die Freude kommt von ganz allein zu einem Menschen – oder sie kommt nicht. Die Freude kommt zunächst unbemerkt zu einem Menschen und überrascht ihn geradezu, sobald er sie bemerkt. Das Erstaunlichste aber ist, dass die Freude sich auch in einem beschwerlichen Leben einstellen und einem bequemen Leben fern bleiben kann. Sie lässt absolut nicht mit sich handeln, und das im wahrsten Sinne des Wortes: Jeglicher „Handel“ mit dem „Artikel“ Freude ist zum Scheitern verurteilt.

In unserer Welt der Extreme beobachten besorgte Wissenschaftler und Mediziner zurzeit ein derartiges Massenscheitern in den USA. Der Handel mit anregenden Glückspillen und schmerz-senkenden Opioiden boomt, aber statt einem kometenhaften Anstieg an fröhlichen Menschen gibt es einen kometenhaften Anstieg an Drogentoten in der Bevölkerung. Die Behörden sind alarmiert und der Präsident hat den Gesundheitsnotstand ausgerufen. Jetzt wird fieberhaft überlegt, wie dieser „Epidemie“ gegengesteuert werden könnte. Zweifellos ist das Problem vielschichtig, trotzdem läuft es auf einen simplen zentralen Punkt hinaus: Es soll Freude erzeugt oder zumindest das Leiden an der Freudlosigkeit durch Betäubung vermindert werden. Nun: Freude künstlich zu erzeugen, funktioniert nicht, aber eine Betäubung zu erzeugen ist leicht, und so sind viele Konsumenten damit zufrieden… Wenn Fressorgien, Computer-Spiele, Autorasereien, Sexexzesse etc. nicht mehr hinreichend von der Freudlosigkeit ablenken, dann schaffen es Alkohol, Heroin oder die neuesten Kassenschlager Fentanyl und Oxycodon bestimmt.

Gibt es ein wirksames Gegenmittel gegen diese „Epidemie“? Ich würde sagen: Nachlesen bei Frankl, wäre der erste Schritt zur Entwicklung eines solchen. Es gilt schließlich, der Freude auf die Spur zu kommen. Jener Freude, die von ganz allein kommt, uns überrascht, und sogar ein beschwerliches Leben noch zu vergolden vermag. Sie ist eine anhängliche Gefährtin des Sinns. Wo immer sinnorientiertes Leben stattfindet, ist die Freude häufig zu Gast. Personen, die einen tiefen Sinn in ihren Tätigkeiten sehen, erfreuen sich an ihrem täglichen Tun. Personen, die sich mit Hingabe für ihre Familie engagieren, erfreuen sich am Gedeihen ihrer Lieben. Personen, die mit Leidenschaft wandern, basteln, musizieren, Garten gestalten, Gedichte schreiben u. ä. freuen sich an ihren Kontakten mit der Natur bzw. der Kultur.

Personen, die sich beherzt im Sozialbereich einsetzen, freuen sich über jeden Minierfolg, den sie verbuchen können. Personen, die ein Leiden, einen Verlust oder eine Krankheit mit Würde tragen, erfreuen sich noch an so manchen Kleinigkeiten. All diese Personen rutschen nicht in die Freudlosigkeit ab, und zwar auch dann nicht, wenn sie umdisponieren müssen. Wer es versteht, sich am jeweiligen Sinn der Situation zu orientieren, kann das sogar in prekären Lebenslagen. Er braucht kein seelisches oder physisches Doping, weil die „Trotzmacht des Geistes“ in ihm sprudelt, von der Frankl betont hat, dass sie zu unserer spezifisch humanen Ausstattung gehört. Und wo die Grenzen des Trotzens erreicht sind, kann der sinnorientierte Mensch immer noch eines: Sich die größte und erhabenste menschliche Leistung abringen, die es gibt, in der Versöhnung mit dem Unabänderlichen. Nicht selten nähert sich auch ihm dann die Freude auf leisen Sohlen …
Amerikanische Fachleute verschiedener Disziplinen zerbrechen sich die Köpfe, wie dem diagnostizierten Gesundheitsnotstand gewehrt werden kann, und zwar in zweifacher Hinsicht: präventiv und kurativ. Entsprechende Programme sind selbstverständlich auch in anderen Ländern erwünscht, denn bekanntlich kam den USA schon oft eine Vorreiterrolle zu, im Guten wie im Schlechten. Was also hat die Logotherapie programmatisch dazu anzubieten?
Klar ist, dass eine Besserung nur über das Zusammenwirken multipler „Heilsfaktoren“ zu erzielen ist. Mir als ehemaliger Franklschülerin kommt es zu, den „logotherapeutischen Heilsfaktor“ darunter zu veranschaulichen. Er besteht darin, eine Kettenreaktion zwischen der Intensivierung der persönlichen Sinnsuche und der erlebbaren Freude in Gang zu setzen. In vielen Wissenschaftsberichten, die sich mit der Thematik befassen, wird wiederholt der Finger darauf gelegt, dass Menschen aller Altersklassen zu wenig Zukunftsperspektiven haben, arbeitslos sind oder sich überarbeiten, kaum jemals Lob und Anerkennung einheimsen, keinen Halt in Religion, Familie oder Gemeinde mehr finden, sowie für ihre Krankheiten keine bezahlbare Behandlung und kein tröstliches Ohr.

So bedauerlich dies auch ist – sie sind dennoch nicht bloß Opfer falscher Systeme! Sie sollten ermutigt werden, ihr Geschick in ihre eigenen Hände zu nehmen und täglich eine kurze Meditation abzuhalten. Was ist sinnvoll zu tun, und was ist sinnvoll, zu unterlassen? Ist es vielleicht sinnvoll, sich beharrlich und ausdauernd nach Arbeit umzusehen? Sich daneben weiterzubilden? Ist es vielleicht sinnvoll, sich bei der Arbeit in Selbstdisziplin einzuüben, um sich nicht zu verausgaben? Oder auch ohne bestätigendes Feedback von außen motiviert zu bleiben? Ist es vielleicht sinnvoll, auf einen einfachen, asketischen Lebensstil umzusatteln, um die eigene Fitness zu erhalten bzw. rückzuerobern? Ist es vielleicht sinnvoll, die Beziehungen zu Verwandten und Bekannten auf eine neue Basis zu stellen? Wer in stiller und aufrichtiger Zwiesprache mit sich selbst dem Sinn nachspürt, wird ganz gewiss fündig, und wer das Gefundene zu seinem Leitstern erkürt, geht mit gesteigerter Bewusstheit an die Herausforderungen seines Lebens heran. Sein Leben reichert sich mit Wertverwirklichungen an. Es wird kontinuierlich lebenswerter. Öfter und öfter kommt die Freude zu Besuch. Wer greift da noch zu Aufputschmitteln? Wer will sich da noch betäuben? Werte-Bewusstheit ist geradezu das Gegenteil vom Betäubungswunsch.

Freilich ist der Einwand berechtigt, dass manche Personen in zu instabilem Zustand sind, um zum Abenteuer der Sinnsuche aufzubrechen. Manche haben niemals Anregungen oder Vorbilder in dieser Hinsicht erlebt, sind ihrer innersten Gewissensstimme entfremdet, oder auf krumme Pfade verführt worden, auf denen sie sich wie in Labyrinthen verstrickt haben. Ihr urtümlicher „Wille zum Sinn“ ist verschüttet. Ihre Freiheit ist beschnitten. Aber ihre zutiefst menschliche Geistigkeit haben sie nicht verloren, können sie nicht verlieren; diese ist ihnen „qua Menschsein“ verbürgt. Deshalb gibt es ohne Einschränkung Hoffnung für sie. Sie brauchen kompetente und behutsame Hilfe, logotherapeutische Hilfe, würde ich sagen. Sie brauchen einen Begleiter, der sie mitten im Labyrinth abholt und davon überzeugt, dass es Auswege gibt. Der mit ihnen neue Pfade ausprobiert, ihre Freiräume öffnet, ihnen Visionen entlockt und insgesamt ihre Lust auf das Abenteuer
„Sinnsuche“ wieder entfacht. Der sie jedoch auch stetig mahnt und stützt, notwendig Schmerzvolles auszuhalten um jener sinnvollen Ziele willen, die sie sich setzen möchten, und die nicht ohne Verzichte zu erreichen sind. Antworten auf die Sinnfrage sind nicht durchgehend angenehm, wie wir bereits wissen. Trotzdem sind sie es wert, befolgt zu werden, weil sie letztlich Leid reduzieren und Freude schaffen – für Mensch und Welt.

Soviel zum präventiven Aspekt. Zum kurativen Aspekt bedarf es einer fachlichen Ergänzung. Der Gesundheitsnotstand, der in den USA ausgerufen worden ist, hat sich deswegen so zugespitzt, weil die Einnahme von Drogen und nervenbeeinflussenden Medikamenten einen massiven Eingriff ins Gehirn darstellt. Das Gehirn ist das (unglaublich fähige und präzise) Werkzeug des menschlichen Geistes. Erst im gegenwärtigen Jahrhundert ist die Neurobiologie fortgeschritten genug, um uns ermessen zu lassen, wie sehr unser personales Ich, das wir sind, von der Tauglichkeit unseres Gehirns, das wir haben, abhängig ist, ohne deswegen damit identisch zu sein. Frankl pflegte diesbezüglich anzumerken, dass auch das Licht, das wir in einem Zimmer andrehen, von einer tauglichen Lampe abhängig ist, ohne deshalb Selbiges zu sein. Das heißt: Ähnlich, wie im Zimmer kein Licht erscheint, wenn die Lampe kaputt ist (ohne dass deswegen das Licht kaputt wäre!), erscheinen auch keine geistigen Phänomene, wenn unser Gehirn stark geschädigt ist. Das aber ist genau die Verwüstung, die Drogen hinterlassen: geschädigte Gehirne. Und weil alles Fragen und Fahnden nach Sinn und alles Erfassen und Realisieren von Sinn geistige Phänomene sind, tauchen sie in geschädigten Gehirnen fast nicht mehr auf. Die Kettenreaktion zwischen der Intensivierung der persönlichen Sinnsuche und der erlebbaren Freude ist nicht mehr in Gang zu setzen.
Das ist der Grund, warum einer logotherapeutischen Behandlung von Drogensüchtigen ein länger andauernder klinischer Entzug vorgeschoben werden muss. Zweifellos zählt es zu den vorrangigen Aufgaben der heutigen Medizin, Gehirnschäden zu gut wie möglich zu reparieren oder auszugleichen. Das mag kostenaufwendig sein, wird sich aber (auch mit Blick auf unsere gestiegene Lebenserwartung) enorm lohnen. Denn analog, wie man im finsteren Zimmer nicht produktiv tätig sein kann, kann auch der menschliche Geist mit stumpfen und desolaten Werkzeugen wenig anfangen.

Angesichts von Tausenden Kranken, die zu „umnebelt“ sind, um sinnvolles Leben eigenständig gestalten zu können, verschiebt sich die Sinnfrage auf andere Adressaten. Ist es sinnvoll, ein flächendeckendes Netz an therapeutischen Zentren aufzubauen, in denen drogensüchtige (und eventuell auch psychotisch kranke) Personen eine erstklassige Behandlung erhalten, die die Werkzeuge ihres Geistes schärft und es ihnen gestattet, ihre geistige Freiheit und ihren „Willen zum Sinn“ wiederzuerlangen? Tausendmal Ja! Zu dieser sinnvollen Aufgabe gibt es keine sinnvolle Alternative. Es fehlen die finanziellen Mittel dafür? Mit dem Sinn kann man nicht feilschen, und fadenscheinige Ausreden prallen von ihm ab. Für wie viele Rüstungsausgaben sind finanzielle Mittel vorhanden, für wie viel überflüssigen Politkram und Industrieklamauk fließen Gelder … Im Land der 1000 Möglichkeiten müsste es zumindest die eine Möglichkeit geben, das tausendfache Ja zu dieser gesellschaftlichen Aufgabe lauthals zu sprechen und den Drogenkranken nachhaltig zu helfen.

Aber vielleicht steht etwas Abgründigeres als Geldmangel im Weg? (Nicht nur auf Taten, auch auf die Gesinnung kommt es an …) Könnte es Menschenverachtung sein? Könnte die Idee umgehen, dass die Junkies an ihrem Dilemma selber schuld sind und nicht verdienen, auf Kosten des Staates saniert zu werden? Es stimmt, ein Schuldanteil liegt bei ihnen. Wie groß dieser in individuellen Fällen ist, kann zwar niemand abschätzen, aber ganz ohne eigene Fehlentscheidungen starten Drogenkarrieren (und auch Alkoholkarrieren) nicht. Haben sie allerdings einmal gestartet, entwickeln sie eine Dynamik, der sich die Betroffenen kaum mehr entwinden können. Sie sind wie in einer Falle gefangen, und je mehr sie sich aus der Freudlosigkeit ihres sinnentleerten Lebens (mittels Tropfen und Pülverchen) losstrampeln wollen, desto heftiger schnappt die Falle zu. Es ist eine völlige Fehlbeurteilung, sie zu verachten! Sie sind genauso wertvolle Menschen wie wir alle, und man darf volles Mitgefühl mit ihnen empfinden. Sie zählen zu den (psychisch und physisch) Ärmsten unter den Armen, sie sind verzweifelt – so verzweifelt, dass sie es nicht mehr aushalten, ihre existentielle Verzweiflung zu spüren, und sich voll zudröhnen … bis endlich alle Verzweiflung verstummt ist, weil ihr beeinträchtigtes Gehirn keine geistigen Signale aus ihrem innerste Personenkern mehr transportiert.
Was aber den eigenen Schuldanteil betrifft, frage ich: „Wer wirft den ersten Stein?“ Wer ist frei von Fehlentscheidungen, die er je getroffen hat? Der amerikanische Normalbürger ist es ebenso wenig wie sein Präsident. Wer darf sich folglich anmaßen, kranke Menschen im Stich zu lassen, weil sie einst gefehlt haben? „Niemand darf das“, wispert der Sinn, wenn wir in unsere intimsten Seelengefilde hineinlauschen.

Auf ihn sollten wir hören. Der Gesundheitsnotstand in den USA ist nur eine Facette tragischer Auswüchse, die sich ankündigen, wo immer der Sinnfrage kollektiv zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Im Zeitalter der digitalen Überschwemmung mit Informationen wird sich früher oder später erweisen (was Viktor E. Frankl längst prophezeit hat, nämlich), dass nur eine einzige Information die Priorität und Superiorität besitzt, unsere menschliche Evolution (entgegen den Befürchtungen vieler Zeitgenossen) prosperierend voranzutreiben, und das ist die jeweilige Information, die uns unser „Sinn-Organ“ Gewissen“ zuflüstert.
Es wäre besser, es würde sich „früher“ als „später“ erweisen.

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