Elisabeth Lukas

115 Jahre – und kein bisschen alt

115 Jahre – und kein bisschen alt

Ein Text anlässlich des 115. Geburtstag von Viktor E. Frankl im März 2020

115 Jahre – und kein bisschen alt

Im März 2020 gedenken zahlreiche Forscher, Wissenschaftler, Psychotherapeuten, Interessenten und Freunde der Logotherapie aus aller Welt des 115. Geburtstages von Viktor E. Frankl. Inzwischen hat sich der Kreis derjenigen, die Frankl noch persönlich gekannt haben, vermindert. Trotzdem achten und ehren ihn viele auf Grund seiner bahnbrechenden Thesen, die er gelehrt und in seinen Schriften niedergelegt hat. Frankl selbst jedoch war jeglichem Personenkult abhold. Ihm ging es ein Leben lang um Inhalte bzw. um den Wahrheitsgehalt von Inhalten auf seinem Fachgebiet. Und sein Fachgebiet war schlicht und einfach der Mensch.

Ich, die privilegiert war, über 30 Jahre lang Kontakt mit ihm zu haben, sah, wie tief er in das Wesen des Menschseins hineinleuchtete. Ausgestattet mit multiplen Kenntnissen aus der Medizin, Anthropologie, Philosophie, Psychologie, Psychiatrie und den therapeutischen Ansätzen aus seiner Epoche entwarf er ein Menschenbild, wie es heute noch seinesgleichen sucht. Keine seelische Krankheit, Störung oder Abgründigkeit war ihm fremd, aber genauso waren ihm die exorbitanten Spitzenleistungen und Aufgipfelungen des menschlichen Geistes vertraut. Er, der die teuflischsten Grausamkeiten, deren nur Menschen fähig sind, hautnah erlebt hat, ließ sich den Glauben an die selbstlose Liebe und Hingabe, deren auch nur Menschen fähig sind, nicht rauben. Unbeirrt behauptete er, dass das eine wie das andere potentiell in uns läge – und jederzeit von uns wählbar sei.

Dass er dem Menschen ein solch hohes Maß an Willensfreiheit und Verantwortlichkeit zusprach, war ein Stachel in den Theorien der Deterministen und Materialisten unter den orthodoxen Naturwissenschaftlern. Frankl und seine Gegner blieben einander die Beweise schuldig. Erst nach Frankls Tod haben breit angelegte Studien die meisten seiner axiomatischen Grundannahmen voll bestätigt. Würde Frankl „vom Himmel herunterschauend“ davon erfahren, würde er dennoch – so, wie ich ihn kenne – nicht triumphieren. Er würde lediglich anmerken, dass „die Frau und der Mann auf der Straße“ längst davon wussten. Unverbildet spürt jeder Mensch in seinem Innersten, was von Anfang an in ihn hineingelegt ist: Neben der Macht des Sich-frei-entscheiden-dürfens die unabdingbare Sehnsucht danach, sich „richtig“, eben „sinnvoll“ zu entscheiden und sein Bestmögliches zum Wohle der ihn umgebenden Mit- und Umwelt einzubringen. Gewiss, tausend Widerstände machen es ihm schwer, insbesondere jene, die aus der eigenen Psyche stammen. Der Arzt und Therapeut Frankl hegte nicht die geringsten Illusionen darüber. Er forderte lediglich, dass man keinen Menschen (auch nicht sich selbst) auf dasjenige festnageln dürfe, was dieser gerade sei, sondern ständig die Chance im Auge behalten solle, was aus diesem Menschen im Positiven noch werden könne. Alles sei offen- bis zum letzten Atemzug.

Freilich hören wir nicht gerne von unserem letzten Atemzug. Doch Frankl scheute keine Tabus. Er räumte auf mit der verbreiteten simplifizierenden Interpretation des Leides als einem „Betriebsunfall“, den man etwa durch geschicktes Handeln, genügend Durchsatzungsfähigkeit oder lnanspruchnahme teurer psychologischer Begleitung vermeiden könne, und deklarierte das Leiden ebenso wie das Versagen und das Sterben zum urmenschlichen Los, dem niemand entrinnt. Leben ist – Passion, und das durchaus in der Doppelbedeutung des Wortes. Es ist in seinen hellen Stunden durchwoben von der Leidenschaft für jene Werte, die einem unermesslich viel bedeuten, und in seinen dunklen Stunden überschattet von Trauer und Schmerz über die Wertverluste, die irgendwann unausweichlich eintreten. Einzig jemand, dem alles egal wäre, könnte am Leiden vorbei leben; allerdings um den Preis, am Leben selbst vorbei zu leben.

Dass Frankl seine hilfreichen Konzepte für den leidenden Menschen trotz aller Realitätseinschätzung als von einem „tragischen Optimismus“ durchflutet bezeichnet hat, ist charakteristisch für ihn. Unter der Perspektive der Sinnfrage wandelt sich nämlich das urmenschliche Los in Auftrag und Herausforderung an den menschlichen Geist. Krankheit, Leid und Not werden zum Aufruf, das Änderbare kreativ zu ändern und das Unabänderliche heroisch zu ertragen. Fehler und Schuld verdichten sich zu Wachstumsimpulsen und Läuterung. Die Endlichkeit und Vergänglichkeit des Lebens mahnen zum besonnenen Nutzen der uns geschenkten Jahre und Kräfte. Dass Frankl seine Konzepte nicht bequem am Schreibtisch sitzend entworfen, sondern aus überzeugender Praxis gewonnen hat, zeigt sich u. a. daran, dass er sie ohne Abstriche im eigenen Leben und Wirken umgesetzt hat. Wahrscheinlich ist es das Beeindruckendste an seinem gesamten Werk, dass sich dessen Kernaussagen eins zu eins decken mit dem geschichtlichen Dasein ihres Begründers.

Die derzeitige Weltlage ist eine andere als zur Geburt Frankls. Zwar war sie 1905 auch nicht rosig, aber 2020 scheint der globale Zukunftshorizont noch bewölkter zu sein als damals. Was brauchen Menschen in unsicheren Zeiten? Bestimmt nicht Apathie, Depressionen, Ohnmachts- oder Erschöp-fungsgefühle, wie sie derzeit grassieren. Sie brauchen dasselbe, was Wanderer im Gewirr unübersichtlicher Pfade brauchen, nämlich Orientierung. Woran aber können sich die Mitglieder unserer modernen Gesellschaft orientieren? Was im Internet steht? Widersprüchlich! Was die Traditionen uns vermitteln? Kulturell aufgeweicht! Was die Politiker anordnen? Umstritten! Was die künstliche Intelligenz uns sagt? Programmfehleranfällig! Aus Frankls Erbe weht uns ein erlösender Tipp entgegen:
„ln Euch wohnt ein ,Sinn-Organ‘ namens Gewissen!. Säubert es vom Gestrüpp sämtlicher Fremdeinflüsse und Indoktrinationen und lauscht ihm in Ruhe, Einsamkeit und absoluter Ehrlichkeit! Es wird Euch, einem inneren Navigationsgerät gleich, stets die Richtung weisen. Die eine, die gerade jetzt und exakt für Euch stimmig ist. Es lässt Euch nicht im Stich. Folgt Eurem Gewissen und blickt mutig in die Zukunft! Die Welt ist nicht heil, aber heil-bar. Sie braucht Euch, sie wartet auf Euch und Euer Engagement. Sie ist die Spielwiese und zugleich der Prüfstein des menschlichen Geistes …“
Ist das ein antiquierter Rat? Ich glaube, es gibt nichts Aktuelleres als Frankls Worte. Wir müssen sie uns bloß zu Herzen nehmen – und weiterreichen an die junge Generation, die Gestalter von morgen.
2020, zu Frankls Geburtstag am 26.3.1905

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